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Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Kaffke
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wenig zu kurz geworden waren.
    «Wer bist du denn?», fragte Lina, als sie sich von dem Schreck erholt hatte.
    «Anno.» Auch er schien den Schrecken überwunden zu haben.
    «Bist du Annettes Bruder?»
    Er schien einen Moment zu überlegen, dann nickte er. «Du gehörst nicht hierher», stellte er dann fest.
    «Ich bin Fräulein Lina Kaufmeister. Ich mache Kleider für deine Mutter und deine Schwester.» Lina deutete auf seine Jackenärmel. «Wenn ich das so sehe, sollte ich auch neue Anzüge für dich nähen. Du bist aus diesem herausgewachsen.»
    Er sah sich die kurzen Ärmel an und nickte wieder. «Neulich haben sie noch gepasst.»
    Lina wusste nicht so recht, was sie tun sollte mit dem Bürschchen, das man ihr bisher nicht vorgestellt hatte, und beschloss, möglichst unbefangen zu bleiben. Kinder schätzten es, wenn man sie ernst nahm, und so hatte Lina es immer gehalten.
    Interessiert beobachtete Anno, wie Lina den großen Tisch abräumte und Stoff darauf ausbreitete. Er schien entschlossen, mit ihr zu reden. «Ich gehe nicht oft aus dem Haus, weißt du. Nur manchmal. Dann schaue ich mir den Dom an.»
    «Den Dom?», fragte Lina verwirrt.
    «Du musst doch den Dom kennen! Er ist doch so groß!»
    Lina erinnerte sich, dass die Familie Wienhold zuletzt in Cöln gewohnt hatte. Meinte er etwa den Cölner Dom?
    «Natürlich kenne ich den Dom. Aber hier in Ruhrort haben wir keinen Dom. Nur zwei kleine Kirchen.»
    Anno schwieg, schien eine Weile ganz in sich versunken. «Ruhrort», wiederholte er dann ganz langsam. «Wo liegt das?»
    «Auch am Rhein wie Cöln, aber weiter nördlich und auf der anderen Seite. Dort, wo die Ruhr in den Rhein mündet. Hast du es denn nicht gesehen, als ihr hier ankamt?»
    «Nein. Ich … ich schlafe sehr viel.»
    «Dann bist du wohl krank, Anno?»
    Wieder nickte er. «Ja, ich denke schon.»
    «Ich war als Kind auch sehr lange krank.» Lina machte ein paar Schritte um den Tisch. «Deshalb hinke ich, siehst du?»
    Er lächelte. «Ich hinke nicht. Aber ich weiß oft nicht, wo ich bin und was ich gerade getan habe.»
    Großer Gott, dachte Lina. Womit ist der Kleine nur geschlagen?
    In diesem Moment ging die Tür auf, und die Kinderfrau stand mit hochrotem Kopf vor ihnen. Eine Haarsträhne hatte sich gelöst, und die sonst so steife, überkorrekte Person war offensichtlich in heller Aufregung. «Anno», rief sie. «Hier hast du dich also versteckt! Du solltest doch dein Zimmer nicht verlassen.» Sie nahm ihn bei den Schultern und schob ihn aus dem Zimmer. «Entschuldigen Sie bitte, Fräulein, dass er Sie gestört hat.»
    «Aber das hat er gar nicht», sagte Lina. «Wir haben uns nur ein wenig unterhalten.»
    Täuschte sie sich, oder schien die Gouvernante erschrocken über diesen harmlosen Satz? Ohne ein weiteres Wort brachte sie den Jungen hinaus.
    Lina fuhr fort, das Kleid zuzuschneiden. Entlang des großen Schneiderwinkels zeichnete sie mit einem Stück Kreide die Umrisse der einzelnen Teile auf.
    Kurze Zeit später kam Jutta Wienhold herein. Auch sie sah abgehetzt und derangiert aus. «Ich hörte, Anno war bei Ihnen, liebes Fräulein Kaufmeister.»
    «Ja, das war er.» Lina schnitt konzentriert eine lange gerade Strecke entlang. «Und jeder scheint deswegen besorgt zu sein. Dabei haben wir uns nur ein wenig unterhalten.»
    «Das wird sicher seltsam für Sie gewesen sein.» Jutta sah in einen der Wandspiegel und fingerte an ihrer verrutschten Haube herum.
    «Nun, ein wenig seltsam war schon, dass er offenbar nicht wusste, dass er in Ruhrort ist. Er glaubte, er sei noch in Cöln.»
    Jutta setzte sich auf einen Sessel und barg den Kopf in den Händen. Als sie aufsah, schimmerten Tränen in ihren Augen. Lina hielt mit dem Zuschneiden inne und ging zu ihr. «Ist es so schlimm mit dem Kleinen?», fragte sie.
    Jutta nickte.
    «Sie brauchen es mir natürlich nicht zu erzählen …»
    Jutta wischte sich die Augen. Es dauerte einen Moment, bis sie sprach. «Er ist Annettes Zwillingsbruder, und vor einiger Zeit stellten wir fest, dass er sich seltsam verhielt. Er … er berichtete von Stimmen, die er hört. Und manchmal war er ganz rasend. Dann wieder wusste er nicht, wo er war, aber immer wieder lief er fort und fand nicht mehr nach Hause. Deshalb sperren wir ihn die meiste Zeit im Haus ein. Niemand kann ihm helfen, niemand.»
    Sie blickte zu Lina auf. «Deshalb sind wir auch von Cöln weggegangen, damit niemand fragt, wo Anno geblieben ist.» Ihr Gesichtsausdruck wurde fast ängstlich. «Liebes

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