Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Kaffke
Vom Netzwerk:
Fräulein Kaufmeister – liebe Lina, wenn Sie mir erlauben, Sie so zu nennen –, ich bitte Sie von Herzen, niemandem von unserem großen Unglück zu erzählen. Wir versuchen, dem Jungen ein angenehmes Leben zu bieten, bei dem es ihm an nichts fehlt außer seiner Freiheit. Wir wollen ihn vor dem Irrenhaus bewahren, in das wir ihn unweigerlich geben müssten, denn manchmal ist er recht gefährlich, so jung er noch ist. Sie müssen mir versprechen, das für sich zu behalten, Lina, bitte.»
    «Aber natürlich, liebe Jutta. Von mir wird niemand etwas erfahren, das verspreche ich. Allerdings …» Sie lächelte. «Sie müssen mir erlauben, dem Jungen einen anständigen Anzug zu nähen, aus seinem ist er ganz herausgewachsen.»
    Jutta lächelte erleichtert. «Wenn es ihm das nächste Mal ein paar Stunden gutgeht, schicke ich ihn zum Maßnehmen. Und wenn Sie ihm wieder unerwartet begegnen, sagen Sie bitte sofort Bescheid. Er weiß inzwischen zu gut, wie er seiner Aufsicht entfliehen kann.»
    Trotz der merkwürdigen Begegnung mit dem kranken Anno war der Aufenthalt im Hause Wienhold für Lina wie ein Ausflug in eine andere, schönere Welt. Auch wenn sie hart arbeitete, um die vielen Kleider fertigzustellen – inzwischen half auch das für sie abgestellte Hausmädchen Jette bei den einfachen Näharbeiten –, fand sie Zeit genug für lange, immer vertrauter werdende Gespräche mit ihrer Gastgeberin. Mehr und mehr hatte sie das Gefühl, eine neue Freundin gefunden zu haben, und schließlich waren sie zum «Du» übergegangen. Auch wenn Jutta als Gattin des reichen Werner Wienhold durchaus zufrieden mit ihrem Leben war, machte sie aus ihrer Bewunderung für Linas Courage keinen Hehl.
    «Ich finde es wichtig, was du da tust», erklärte sie. «Es gibt so viele unverheiratete Frauen auch aus gutem Hause, die in die größte Not geraten, weil sie sich nicht ernähren können oder es einfach unschicklich finden zu arbeiten. Dabei ist Arbeit doch etwas sehr Ehrenhaftes, wenn einem die eigentliche Bestimmung der Frau versagt bleibt – und es können nicht alle Lehrerinnen werden.»
    «Ich wäre sehr gern Lehrerin geworden», erwiderte Lina. «Aber auch hier war mir mein Gebrechen im Weg.»
    «Ich sehe es gar nicht mehr», sagte Jutta leichthin. «Ich sehe nur eine schöne Frau, die mit ihren Händen und ein wenig Stoff Wunder wirken kann.»

    Jutta Wienhold war mehr als zufrieden mit ihren neuen Kleidern. Dann und wann hatte Lina sich entschlossen, von den Vorlagen abzuweichen, und Jutta war von den Ergebnissen begeistert. «Ich denke fast, du solltest die Kleider auch entwerfen, Lina.»
    Aber Lina schüttelte den Kopf. «Dazu ist Ruhrort viel zu provinziell.»
    Über Juttas Vorschlag, nach Paris zu reisen, um Anregungen zu bekommen, konnte Lina nur herzhaft lachen.
    Auch Annette gefiel sich in ihren Jungmädchenkleidern. Und ihr Bruder hatte zwei neue Anzüge bekommen.
    Als man ihn zum Maßnehmen zu ihr brachte, begleitete ihn ein großer Hausdiener, der Lina bisher noch nicht begegnet war. Zuerst dachte sie, der Junge sei wegen dieses kräftigen Mannes an seiner Seite eingeschüchtert, aber dann hatte sie den Eindruck, als erkenne er sie nicht einmal. Es krampfte ihr das Herz zusammen, dass dieser so hübsche Bursche irrsinnig sein sollte. Danach hatte sie Anno nicht mehr gesehen.
    Schließlich brach ihr letzter Tag im Hause Wienhold an. Lina hatte bereits ihre Sachen gepackt, als sie den Jungen bemerkte. Er stand auf der Treppe vom zweiten in den ersten Stock. Da sein Zimmer im obersten Stockwerk unter dem Dach lag, vermutete sie, dass er wieder einmal seinen Bewachern entkommen war. «Guten Tag, Fräulein Lina Kaufmeister», sagte er höflich.
    Diesmal erkannte er sie also und war ganz so, wie an dem Tag, an dem sie ihn zum ersten Mal getroffen hatte. «Guten Tag, Anno. Bist du ausgerissen?»
    «Ich muss doch das Haus einmal kennenlernen», sagte er leichthin. «Danke übrigens für die neuen Anzüge. Das sind die besten, die ich je hatte.»
    Die neuen Anzüge hatte er also bemerkt. Lina war ein wenig unwohl, hier mit dem Jungen, den seine Mutter als gefährlich bezeichnete, allein im Treppenhaus zu stehen. Aber er war höflich und freundlich und kam ihr weder gefährlich noch irgendwie irre vor.
    «Verrate mich bitte nicht. Ich will nicht weglaufen, ich will mir wirklich nur alles genau ansehen.»
    «Gut. Das bleibt unser Geheimnis.»
    «Du gehst heute fort?», fragte er. «Das habe ich von der Gouvernante

Weitere Kostenlose Bücher