Das Rote Palais - Die Totenwächterin / Der Gottvampir / Die Schattenpforte: Special-eBook-Edition Trilogie (German Edition)
Er probte vermutlich im R o ten Palais für seinen abendlichen Auftritt. Mit verklärtem Blick glitt sie lan g sam auf die Tür zu und schien dem Zauber der Musik zu erliegen wie eine Ratte dem Rattenfänger von Hameln. Rudger stutzte. Bragis Werke waren durchaus eindrucksvoll, doch diese Wirkung verblüffte ihn. Er eilte ihr voraus, um die Tür zu öffnen und sie durch die Gänge zu gele i ten. Doch sie schien den Weg zu kennen oder ließ sich von der Musik leiten. Die Schleppe ihres Gewandes hinterließ eine Spur auf dem staubigen B o den. Vor dem Aufzug blieb sie stehen und richtete ihren Blick nach oben. Rudger betätigte den Sensor und musterte sie. Sie schien ihn nicht zu bemerken. Offenbar hatte die Göttin Iduna etwas in ihr zurückg e lassen, nachdem sie den Wirtskörper verlassen hatte. Sie hatten über einen langen Zeitraum im selben Körper gelebt, waren quasi miteinander verschmolzen. Zwar o b lag der Göttin die Macht zu gehen, dennoch schien ein Teil von ihr geblieben zu sein. Ein mächtiger Teil, denn in Idunas feucht glänzenden Augen stand Sehnsucht. Oder war es nur die Eri n nerung an eine Suche?
*
Die klatschenden Geräusche kamen vom Sofa. Leyla sprang von ihrem Stuhl auf.
„Oh, nein, bitte nicht schon wieder so ein Anfall. Wir können das nicht erneut mit ans e hen, ohne einen Arzt zu verständigen“, rief M a rie.
Sie warf sich im nächsten Moment über den zuckenden Körper ihrer Schwester.
Jarno drückte unterdessen Sandras Schultern fest auf die Couch. Ihre Unterarme schlugen rhythmisch gegen das Leder und hi n terließen jedes Mal eine tiefe Ausbuchtung. Das erklärte einige Bl u tergüsse im Gesicht. Vermutlich hatte sie sich die Wunden bei ihrem ersten Anfall selbst z u gefügt, ohne die Kontrolle über die Wucht der Schläge zu haben. Jetzt hatte sich der zarte Körper wie bei einem epileptischen Anfall versteift, während er sich wie unter äußerer Einwirkung aufzubäumen versuchte. Ihr Kopf war in einem unnatürlichen Winkel schräg nach oben gedreht. Unter den fla t ternden Lidern sah man das Weiß ihrer Augen. Die Lippen zu einem fratzenhaften Grinsen verzogen, gaben den Blick auf ihre Zähne frei. Ein schauderhaftes Knirschen zeugte von einem Krampf im Kiefer.
„Wir müssen ihr einen Knebel in den Mund schieben, sonst beißt sie sich die Zähne k a putt.“
Mit aller Kraft versuchte Leyla mit den Fingern zwischen die Zahnre i hen zu greifen, um ihren Mund aufzudrücken. Dabei sah sie sich suchend nach einem Stück Stoff um. Gei s tesgegenwärtig reichte ihr Jarno einen ledernen Tabakbeutel, den sie ergriff und mühsam zwischen den Millimeter großen Spalt schob. Der Anfall endete so schlagartig, wie er b e gonnen hatte, und hinterließ eine nervenzehrende Stille. Einzig Maries unterdrücktes Schluchzen und Sandras rasselnder Atem waren zu hören.
Leyla spürte Rudgers Anwesenheit als Erste und fuhr herum, als sich seine Hand auf ihre Schulter legte. Er musste den Raum b e treten haben, als sie alle damit beschäftigt waren, die Krampfende zu bändigen. Mit gerunzelter Stirn blickte er von ihr zu dem nun schlafenden Mä d chen. Marie sprang auf.
„Das kann sie nicht mehr lange durchhalten, sie stirbt. Tu etwas, ve r dammt noch mal, du bist doch so mächtig.“
„Marie, bitte …“, versuchte Leyla sie zu ermahnen.
Mit einem Schritt war sie nah vor Leylas Gesicht. „Was? Du hast doch selbst gesagt, Sandra sei besessen. Also kann ihr kein Arzt he l fen.“ Zu Rudger sagte sie: „Aber du kannst ihr helfen, das weiß ich ganz genau – wandle sie um!“
Wie vom Donner gerührt, starrte sie Marie an. Jarno hatte ein erschrecktes Keuchen von sich gegeben. Rudgers Gesicht war au s druckslos. Trotzdem hatte Leyla den Eindruck, dass er besorgt war. Außerdem spürte sie, dass er ausgeruht wirkte. Für einen S e kundenbruc h teil blitzte die Szene aus dem Gewölbe vor ihren Augen auf. Sie konnte von sich nicht gerade behaupten, entspannt zu sein. Mitten in dem heillosen Durcheinander, zog sich ihr Magen bei dem Gedanken an Rudgers Int i mität mit einer anderen Frau zusammen. Er trug wieder dasselbe Hemd, das gestern noch eine andere getragen hatte. Wahrscheinlich hing noch ihr Geruch darin.
„Hier wird niemand umgewandelt.“
Seine ruhige Stimme hatte einen drohenden Unterton, der keine Widerrede zuließ. Mit seiner ausgestreckten Hand glitt er lan g sam über Sandras Oberkörper, ohne sie zu berü h ren. Er schloss die Augen. Die tiefe Furche an seiner Nasenwurzel
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