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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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wüsste ich genau, was ich tat. »Ich hätte gern einen ruhigen Raum, und dort möchte ich alles durchsehen, was Sie zu dem Fall haben.«
    »Sonst noch was?« Letzteres sagte er ziemlich grimmig.
    »Eine Tasse Tee wäre schön. Nur einen Tropfen Milch, bitte. Keinen Zucker.«
    Furth führte mich in einen kleinen fensterlosen Raum, der roch, als hätte er vorher der Lagerung zerstörerischer illegaler Substanzen gedient. In dem Zimmer stand nichts als ein Schreibtisch und ein Plastikstuhl. Innerhalb weniger Minuten traf eine Beamtin mit ein paar Akten ein, die mir ziemlich dünn erschienen. Über Liannes Leben war so gut wie nichts bekannt, und über ihren Tod hatten sie auch nicht gerade viele Informationen zusammengetragen. Ich begann zu lesen. Insgesamt saß ich knapp zwei Stunden in dem Raum. Ich informierte mich über Liannes Stichwunden, las ein paar Zeugenaussagen, betrachtete Fotos, die ihre Leiche am Tatort zeigten, wie sie bleich und mit dem Gesicht nach unten im struppigen Gras hinter ein paar Büschen am Kanal lag, und am Ende dachte ich: Ist das alles?

    10. KAPITEL
    Im Radio verkündeten sie, es sei der feuchteste Sommer seit 1736. Ich parkte in einer Pfütze und blieb noch eine Minute im Auto sitzen, während der Regen gegen die Windschutzscheibe und auf die Motorhaube trommelte.
    Ich schloss die Augen, und plötzlich klang das Prasseln für mich wie ein Brüllen. Ich habe mich an den Anblick von Leichen nie gewöhnt.
    Die Pathologin wartete bereits auf mich. Alexandra Harris. Wir hatten uns schon früher mal kennen gelernt.
    Sie sah nicht aus wie eine Pathologin – auch wenn ich gar nicht so genau wusste, wie Pathologen normalerweise aussahen –, sondern eher wie eine alternde Schauspielerin aus den Dreißigerjahren. Der zarte Teint ihres ovalen Gesichts wurde von dunklen Locken umrahmt, was zu ihrem weißen Mantel irgendwie erotisch wirkte.
    Außerdem hatte sie an diesem Tag etwas Verträumtes, Passives an sich. Vielleicht war sie aber auch nur müde.
    Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen.
    »Alexandra«, sagte ich, während wir uns die Hand gaben.
    »Danke, dass Sie mir Ihre Zeit opfern.«
    »Das ist schon in Ordnung. Ist schließlich mein Job. Guy hat gesagt, Sie haben sich die Akten bereits angesehen.«
    »Ja. Die Autopsie wurde nicht von Ihnen durchgeführt, oder?«
    »Nein, das war Seine Hoheit persönlich. Brian Barrow, meine ich. Sir Brian. Heute unterrichtet er. Wonach genau suchen Sie?«
    »Ich möchte mir nur einen Eindruck verschaffen.«

    »Einen Eindruck?« Sie sah mich skeptisch an, als hielte sie das Ganze plötzlich nicht mehr für eine so gute Idee.
    »Ein Gespür für sie«, fügte ich hinzu, weil mir keine bessere Erklärung einfiel. »Für Lianne.«
    »Haben Sie schon mal eine Leiche gesehen? Da gibt’s nicht viel zu entdecken.«
    »Gesehen?«, gab ich zurück. »Ich habe Medizin studiert.
    Da hatte ich sechs Monate lang eine Leiche ganz für mich allein.«
    »Entschuldigen Sie. Soll ich Sie gleich reinführen?«
    »Ja, bringen wir’s hinter uns.«
    Meine Finger schlossen sich um den Griff meiner Aktentasche. Ich wollte Lianne sehen – richtig sehen, nicht nur die schrecklichen Farbfotos studieren und nach Hinweisen suchen. Sie hatte ein kurzes, einsames Leben geführt und schien nun, da sie gestorben war, niemandem zu fehlen. Ich wollte sie berühren, eine Weile neben ihrer Leiche stehen. Alexandra würde das wahrscheinlich nicht verstehen. Ich war mir ja nicht mal sicher, ob ich es selbst verstand.
    »Muss ich was anderes anziehen?«, fragte ich.
    »Sie meinen, ein Ballkleid?«, gab Alexandra grinsend zurück.
    »Nein, wir haben hier keine strengen Kleidervorschriften.«
    »Tut mir Leid«, sagte ich. »Für mich ist das Ganze ziemlich neu. Ich habe noch nicht gelernt, das alles scherzhaft zu sehen.«
    »Möchten Sie, dass ich mit Ihnen rede wie ein Bestatter?«
    »Ich möchte Lianne sehen«, antwortete ich in sanftem Tonfall.

    Das Lächeln verschwand aus Alexandras Gesicht. Sie wirkte plötzlich nicht mehr ganz so freundlich. Ich folgte ihr durch zwei Schwingtüren, hörte das Klicken meiner Absätze auf dem Linoleumboden. Wir waren in eine andere Welt eingetaucht, in der alles kalt, still und steril war. Eine Unterwelt, dachte ich. Unter meinen dünnen Sommersachen bekam ich eine Gänsehaut. Ich konnte mein Herz hämmern hören. Wie seltsam – all diese Körper, aber nur zwei schlagende Herzen.

    Mir wurde schnell klar, was Alexandra gemeint hatte.
    Lianne sah aus, als

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