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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Wenn er gleich hingegangen wäre, hätte sie ihm noch sagen können, wer es war. Dann hätten wir uns die Ermittlungen gespart.«
    »Gehörte er nicht zu den Verdächtigen?«
    »Natürlich. Aber er hat die Leiche nicht angefasst. Die gute Lianne hat ausgesehen, als hätte sie jemand von oben bis unten mit Blut besprüht. Der Mörder muss auch voller Blut gewesen sein. Wir haben Darryl genauestens unter die Lupe genommen, seine Haut, seine Klamotten, alles.
    Keine Spur von Blut.«
    »Dann war da noch diese Frau, Mary Gould«, sagte ich, halb zu mir selbst.
    »Ja, die nette alte Dame mit dem Brot für die Enten. Sie kam von der anderen Seite der Büsche, aus Richtung der Wohnungen. Sie hat die Leiche gesehen und ist einfach abgehauen. Sie hat erst am nächsten Tag angerufen. Auch keine Kandidatin für die Tapferkeitsmedaille.«
    Ich drehte mich wieder zu der Stelle um, wo Lianne gelegen hatte.
    »Und dann hat sich ein paar Tage später Doll gemeldet und uns mitgeteilt, dass er in der Gegend herumgeschlichen ist«, fuhr Gil fort. »Auch wenn er nicht genau diese Worte benutzt hat.«
    Ich runzelte die Stirn. Gil grinste mich unverschämt an und pfiff dabei durch die Zähne.
    Ich versuchte mir die Szene vorzustellen. Als Lianne gefunden wurde, war sie mit einem kurzen roten Lycra-Rock bekleidet gewesen, der bis über die Pobacken hochgerutscht war. Den Slip hatte sie noch an. Sie trug keinen BH, nur ein lila Baumwollshirt. Die Stichwunden waren ihr durch das Shirt zugefügt worden. Am linken Handgelenk befand sich eine jener Armbanduhren, wie man sie manchmal als Werbegeschenk bekommt, und um ihren Hals hing ein billig aussehendes goldfarbenes Medaillon, geformt wie ein gebrochenes Herz, auf dem in schnörkeliger rosafarbener Schrift stand: »Beste …« Lief irgendwo jemand mit der anderen Hälfte des Herzens und der Aufschrift »… Freundin« herum?

    Ich rief Poppy an, meine beste Freundin. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mal wieder eine herzliche Stimme zu hören.
    »Kit! Wie ist es gelaufen? Deine erste Arbeitswoche nach so langer Zeit?« Im Hintergrund konnte ich Kinder kreischen und schreien hören. Poppy rührte gerade irgendwas um, ein Löffel klirrte.
    Erst eine Woche, dachte ich. Vier Tage. »Seltsam«, antwortete ich. »Sehr seltsam.«

    »Ich hab schon mal versucht, dich anzurufen, aber da ist eine Frau rangegangen, die ich nicht kannte.«
    »Julie. Hast du sie damals nicht kennen gelernt? Ist schon ein paar Jahre her, vielleicht war das vor deiner Zeit. Sie war eine Weile im Ausland.«
    »Hat sie dir meine Nachricht nicht ausgerichtet?« Hatte sie nicht. »Wer ist sie? Moment – Megan! Amy! Holt euch eure heiße Milch mit Honig! Entschuldige. Diese Julie …«
    »Sie war ziemlich lang unterwegs, auf Reisen rund um die Welt. Im Moment wohnt sie bei mir. Für eine Weile.«
    »Oh. Nervt dich das nicht?«
    »Eigentlich nicht, zumindest noch nicht.«
    »Und es geht dir gut? Ach, du lieber Himmel, Mädels, wischt das bitte auf. Rasch! Holt ein Tuch oder irgendwas, das Zeug läuft sonst durch die ganze Küche!«
    »Musst du aufhören?«
    »Ich fürchte, ja. Ich ruf dich zurück.«

    Ich hatte am Vortag Essen eingekauft, unter anderem frische Pasta, ein Glas Paprika-Chili-Sauce und zwei von diesen abgepackten Salatmischungen, die man nicht mehr zu waschen braucht, aber die Sachen waren verschwunden. Dasselbe galt für das Stück Zitronenkäsekuchen mit Ingwer. Der Kühlschrank war praktisch leer, abgesehen von ein paar Kartons Milch, einer Packung Frischkäse und – ich hob ihn hoch, um absolut sicher zu gehen – einen neuen schwarzen Slip, an dem noch das Preisschild hing.
    Ich klopfte bei Julie. Keine Reaktion. Ich schob die Tür auf. Überall lagen Klamotten herum, darunter auch einige von mir. Auf dem Aktenschrank, wo Julie einen Spiegel aus dem Bad aufgestellt hatte, standen Cremedosen und Lippenstifte. Neben ihrem ungemachten Bett lagen meine Hausschuhe.
    Ich hatte keine Lust, noch mal einkaufen zu gehen –
    dazu war ich viel zu müde –, deswegen machte ich mir einen Toast mit Marmelade und eine große Tasse Kakao.
    Ich nahm die Hausschuhe wieder in Besitz und schlüpfte in meinen Bademantel. Dann holte ich einen Skizzenblock heraus. Ich saß am Tisch, trank ab und zu einen kleinen Schluck von meiner schäumenden heißen Schokolade und versuchte Lianne zu zeichnen – allerdings nicht ihr Gesicht, nur ihre kleinen, kindlichen Hände mit den abgeknabberten Nägeln. Hände sind sehr schwer zu

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