Das rote Zimmer
irgendwelche Ideen?«
»Nein«, antwortete ich ehrlich. »Habe ich nicht. Aber in dieser Phase wären Ideen ohnehin hinderlich. Ich möchte das Material möglichst unvoreingenommen durchsehen.
Sozusagen mit einem leeren Kopf.«
Furth verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln.
»Ich sehe keinen Grund, Leute mit leerem Kopf anzuheuern, solange wir Gil haben. Außerdem habe ich Ihnen ja schon gesagt, dass es sich hier um einen einfachen Fall handelt.«
»Ach, tatsächlich?«
»Eine Ausreißerin, die tot am Kanal gefunden wurde.«
»Ist das einfach?«
Furth blickte sich achselzuckend um, als wäre es ihm peinlich, von jemandem dabei belauscht zu werden, wie er einer hochnäsigen Klapsdoktorin erklärte, was so offensichtlich auf der Hand lag. »Perverse suchen sich Prostituierte und Ausreißerinnen aus, weil sie leichte Beute sind. Sie schnappen sie sich in der Nähe von Kanälen, weil es dort einsam ist. Keine vorbeifahrenden Autos.«
»Ja, das habe ich alles gelesen.«
»Sind Sie anderer Meinung?«
»Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?«
Furth kniff die Lippen zusammen. Ich glaube, am liebsten hätte er mich aufgefordert, schleunigst aus dem Revier zu verschwinden und nie wieder dort aufzutauchen, aber das durfte er ja nicht. »Dafür bezahlen wir Sie schließlich«, antwortete er.
»Manchmal ist es zu simpel, jemanden einfach mit einem Etikett zu versehen. Vielleicht wäre es hilfreich, wenn Sie Lianne nicht von vornherein als Ausreißerin abstempeln würden. Das hindert Sie nämlich daran, sie als Individuum zu sehen.«
»Sie war eine Ausreißerin.«
»Ich weiß. Aber vielleicht war sie auch noch etwas anderes?«
»Sie meinen, eine Prostituierte?« Er begann zu lachen, riss sich aber am Riemen, als er meine Miene sah. Vor meinem geistigen Auge war Furth einen Moment lang als kleiner Junge aufgetaucht, wie er von anderen Jungs herumgeschubst wurde, bis er gelernt hatte, den harten Mann zu spielen.
»Nein, das meine ich nicht. Sie war eine junge Frau. Sie hatte eine Geschichte, eine Vergangenheit, eine Familie, einen Namen.«
»Den wir nicht kennen.«
»Wie alt war sie ungefähr?«
»Sechzehn, siebzehn – vielleicht ein bisschen jünger, vielleicht ein bisschen älter.«
»Woher wissen wir denn überhaupt, dass sie Lianne hieß?«
»Das wissen wir gar nicht. Wir wissen bloß, dass sie sich selbst so genannt hat. Ein Typ namens Pavic, der hier in der Stadt so eine Art Jugendherberge betreibt, hat sie identifiziert.«
»Aber wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis Sie herausfinden werden, wer Lianne wirklich war und wo sie herkam.«
»Was veranlasst Sie zu dieser Annahme?« Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Lippen.
»Jeder Mensch steht auf irgendeiner Liste, in irgendeinem Computer, irgendeinem Register, nicht wahr?«
»Wissen Sie, wie viele Ausreißer es gibt?«
»Viele, ich weiß.«
»Zehntausende.«
»Ich weiß.«
»Dabei handelt es sich um diejenigen, die tatsächlich als vermisst gemeldet sind. Die wenigstens jemanden haben, der möchte, dass wir sie finden. Aber was ist mit all den anderen wie Lianne, um die sich niemand einen Dreck schert und die einfach eines Tages verschwinden und nie wieder auftauchen? Wie sollen wir die finden, wenn niemand sie vermisst meldet? Das ist wie mit diesen gottverdammten Sammelstellen für verloren gegangenes Gepäck, die es an den Flughäfen gibt. Haben Sie sich das jemals angesehen? Ich schon, in Kairo – ein großes Lagerhaus voller Koffer, die meisten von einer dicken Staubschicht bedeckt oder von Ratten angefressen. Da ist es schwer, eine Tasche wiederzufinden, selbst wenn sie mit einem Aufkleber versehen ist.«
»Lianne ist kein Gepäckstück.«
Er starrte mich an. »Das habe ich auch nicht behauptet.
Ich habe sie nur mit einem Gepäckstück verglichen .«
»Mir ist daran gelegen, dass wir sie als Mensch sehen, nicht als verloren gegangenes Ding. Nicht bloß als ›die Ausreißerin‹.«
»Und was ist mit dem Kanal? Dürfen wir den so nennen, oder könnte es sich Ihrer Meinung nach auch um einen verkleideten Fluss handeln?«
»Ich wollte damit nur sagen, dass es helfen kann, die Dinge mit neuen Augen zu sehen. Aber vielleicht ist das mehr eine Hilfe für mich als für Sie.«
»Gut«, sagte er in sehr ruhigem Ton. »Wir warten begierig auf Ihre Beiträge. Kann ich Ihnen mit irgendetwas dienen?«
»Hat Ihnen das Oban nicht gesagt?« Ich gab mir große Mühe, Respekt einflößend zu wirken und so zu klingen, als
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