Das rote Zimmer
wäre jeder Beweis dafür, dass sie in der chaotischen Welt draußen gelebt hatte, von ihrem Körper gescheuert worden. Sie wirkte extrem sauber.
Nicht in dem Sinn sauber, wie man sich fühlt, wenn man sich die Hände gewaschen hat, sondern so, als hätte man gerade ein Waschbecken geschrubbt und davon runzlige, wunde Hände bekommen. Da ich bis jetzt nur Liannes Kopf sehen konnte, war die einzige Spur ihres Lebens, die mir ins Auge fiel, das winzige Loch in ihrem Ohrläppchen. Sir Brian Barrow hatte eine schwierige Aufgabe gehabt. Er hatte knapp über der Schnittwunde um ihren Hals herumgeschnitten. Sein eigener Schnitt war inzwischen wieder zugenäht worden. Die Wunde, die das Messer des Mörders verursacht hatte, war geblieben, aber gereinigt, und ohne Blut wirkte sie wie aus Plastik. Ich war schon des Öfteren bei Operationen dabei gewesen und hatte den strengen Katzenfuttergeruch nach Fleisch und Blut nie wieder richtig aus der Nase bekommen, aber das hier war anders. Nur ein scharfer medizinischer Geruch, der in meinen Nasenlöchern brannte.
Lianne hatte ein rundes Gesicht und Sommersprossen auf der Nase. Ihr Mund war klein und farblos. Ich legte einen Finger an ihre Wange, fühlte das kalte Fleisch, den Tod unter meinen Fingerspitzen, so eisig und hart, dass ich vor Beklemmung nach Luft ringen musste. Sie hatte langes, kupferfarbenes Zottelhaar, das in der Mitte nachlässig gescheitelt war. Als ich mich vorbeugte, konnte ich die gespaltenen Spitzen sehen. Das Haar scheint nach dem Tod noch eine Weile weiterzuwachsen, das weiß jeder. Dasselbe gilt für die Nägel – aber als ich vorsichtig eine Seite des Leichentuchs anhob, um einen Arm freizulegen, sah ich, dass Liannes Fingernägel bis zum Fleisch abgekaut waren. Sie hatte kleine, plumpe Hände.
Irgendwie rührten mich diese Hände am meisten. Sie wirkten noch weich, als könnten sie weiterhin die Finger abbiegen und etwas halten. Ich berührte ihre Handfläche, aber sie war ebenfalls hart wie Stein.
Ich holte tief Luft und zog das Tuch so weit weg, dass nur noch ihre Füße bedeckt waren. Ich betrachtete ihren Körper in seiner Gesamtheit, prägte mir den Anblick ein.
Sir Brians zweiter langer Schnitt zog sich in einer nicht ganz geraden Linie vom Hals bis zum rötlichen Schamhaar. Um ihren Nabel hatte er einen kleinen Bogen gemacht, wie eine Straße, die an einem historischen Monument vorbeiführt. Die sauber geschlossene Wunde ließ mich in ihrer Ordentlichkeit an eine Nähstunde in einem Hauswirtschaftskurs denken. Ich musste mich auf die relevanten Wunden konzentrieren. Ihr Hals war sauber und effektiv von einer Seite zur anderen durchgeschnitten, aber darüber hinaus hatte sie kleine Stichwunden an den Schultern und am Bauch. Insgesamt waren es siebzehn.
Beim ersten Mal verzählte ich mich und musste von neuem anfangen. Ihre hohen, flachen Brüste waren unversehrt, ebenso ihr Genitalbereich. Ich wusste aus dem Autopsiebericht, dass weder ihre Vagina noch ihr Perineum Verletzungen aufwies.
Ich stellte mich noch näher neben Lianne und bemühte mich, sie im Geiste weiterhin so zu nennen. Ihre Arme waren mit einem feinen Flaum überzogen. Am linken Handgelenk hatte sie ein paar tiefe Kratzer –
wahrscheinlich von den dornigen Zweigen am Kanal. An ihrem linken Knie entdeckte ich eine alte Narbe. Vielleicht hatte sie es sich als kleines Mädchen mal aufgeschlagen.
Ich stellte sie mir mit Zöpfen und Zahnlücken vor, wie sie im Sommer, wenn es nicht regnete, in einem Garten herumlief und von einem glücklichen Leben träumte. Das ist an Kindern so rührend: Sie sind fest davon überzeugt, dass sie ein großartiges Leben führen werden. Wenn man Sechsjährige fragt, was sie werden wollen, wenn sie mal groß sind, dann antworten sie: Pilot, Premierminister, Balletttänzerin, Popstar, Fußballer, Millionär. Ich frage mich, welchen Berufswunsch Lianne wohl gehabt hatte.
Was auch immer ihre Träume gewesen sein mochten, jetzt gab es keine mehr. Jetzt lag sie hier – auch wenn es natürlich nicht Lianne war, die vor mir lag, sondern nur ihr unnatürlich bleicher, eisgekühlter Körper. Hier war niemand außer mir, kein Hauch von Leben außer meinem Atem. Noch nie zuvor hatte ich ein solches Gefühl von Einsamkeit verspürt.
Ich zog das Tuch von ihren Füßen und sah, dass ihre Nägel rot lackiert waren. An einigen Stellen war der Lack abgesplittert. Ich berührte die Narbe an ihrem Knie, dann noch einmal ihre Hand mit den Mitleid erregenden
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