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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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abgebissenen Nägeln. Ich hob eine Strähne ihres kupferfarbenen Haars hoch. Sogar ihr Haar fühlte sich tot an. Jede Zelle, jeder Partikel ihres Körpers war zum Stillstand gekommen. Ich spürte plötzlich ganz bewusst, wie das Blut durch meinen Körper pulsierte, die Luft hindurchströmte, die Bilder durch meine Augen fluteten, sich die Haare auf meiner klammen Haut aufstellten.
    Genug. Ich zog das Laken wieder über Lianne, achtete darauf, dass es sie völlig bedeckte. Ich wollte etwas sagen, irgendetwas, um die Stille zu durchbrechen, aber mir fiel nichts ein, sodass ich mich stattdessen laut räusperte.
    Sofort kam Alexandra in den Raum gestürzt. Sie musste direkt vor der Tür gewartet haben.
    »Fertig?«
    »Ja.«
    Lianne lag in einem Schubfach, das Alexandra mit einiger Anstrengung zurückschob wie in einen riesigen Aktenschrank.
    »Nichts, was Sie nicht auch im Bericht hätten finden können, oder?«, fragte sie mit einer Spur von Schärfe in der Stimme.
    »Ich wollte mir die Wunden ansehen«, entgegnete ich.
    Nachdem ich wieder in meinen Regenmantel geschlüpft war, griff ich nach meiner Aktentasche und trat in den strömenden Regen hinaus. Ich sah zum Himmel empor und ließ die Regentropfen wie Tränen über mein Gesicht rinnen.

    Ich kehrte in meine fensterlose Kammer auf dem Revier zurück und blätterte Liannes Akte noch einmal durch, obwohl ich sie mittlerweile schon sehr gut kannte. Zuerst überflog ich das Blatt mit den spärlichen Informationen über ihr Leben: junge Frau, unter dem Namen Lianne bekannt, geschätztes Alter zirka siebzehn, allem Anschein nach vor sieben oder acht Monaten im Stadtteil Kersey Town aufgetaucht, für kurze Zeit in einem Jugendhaus abgestiegen, das ein gewisser William Pavic betrieb. Ab da hatte sie – laut ein paar anderen Obdachlosen, die sie dem Polizeibericht zufolge gekannt hatten – auf Parkbänken oder in Hauseingängen geschlafen oder hin und wieder auf dem Fußboden einer Freundin, die besser dran war als sie und es sich leisten konnte, in einer Frühstückspension zu übernachten. Das war alles – nichts über ihren Charakter, ihre Bekanntschaften, ihr Liebesleben. Aus dem Bericht ging nicht hervor, ob sie noch Jungfrau gewesen war oder nicht.
    Ich griff nach der Karte, auf der eingezeichnet war, wo man ihre Leiche gefunden hatte. Die Stelle war mit einem X markiert. Dann rief ich Furth an.
    »Ich würde mir gern anschauen, wo sie gefunden worden ist«, erklärte ich. »Vielleicht heute Nachmittag, wenn ich mit meiner Arbeit in der Klinik fertig bin. Gegen fünf Uhr, wäre das möglich?«
    »Ich werde Gil beauftragen, Sie hinzubringen«, antwortete er. Ich konnte sein Lächeln fast spüren.

    »Das ist die Stelle, wo Doll ihr den Garaus gemacht hat«, verkündete er mit einem Seitenblick auf mich. Er trat zurück, um mich vorbeizulassen.
    Liannes Leiche war an einem ziemlich steilen Teil der Uferböschung hinter einem Baumstumpf gefunden worden. An der Stelle wuchsen Jakobskraut, Wiesenkerbel und Nesseln, und man konnte an den niedergedrückten und abgebrochenen Stängeln der Pflanzen sehen, wo sie gelegen hatte. Ihr Kopf war mit dem Gesicht nach unten direkt in den grünen Wald aus Unkraut hineingeschoben worden. Ihre Füße, die in kessen rotweiß gestreiften Socken und weißen Pumps gesteckt hatten, waren auf einer zerbrochenen Flasche gelandet. Fetzen von Plastiktüten hingen von den dornigen Zweigen der Büsche und trieben im öligen braunen Wasser dahin. Wo der Treidelpfad am Kanal entlangführte, waren Zigarettenschachteln und alte Kippen in den schlammigen Boden getreten. Direkt vor Liannes Versteck lag ein kleines Plastikpferd. Wahrscheinlich hatte ein Kind es dort fallen lassen. Gleich dahinter sah ich einen verbogenen, vor sich hin rostenden Fahrradreifen.
    »Gefunden hat sie ein junger Mann?«
    »Ja. Darryl noch was.«
    »Pearce.«
    »Ja, ein Jogger. Geschieht ihm recht. Haben Sie seine Aussage gelesen? Er hat sie gefunden, als sie gerade starb.
    Mehr oder weniger. Er ist hier vorbeigetorkelt und hat sie schreien gehört.«
    »Aber bis er sie gefunden hatte, war sie bereits tot.«
    »Wichser – ich meine natürlich Darryl, nicht Sie. Er hat sich zehn Minuten hier herumgetrieben und überlegt, was er tun soll. Behauptet er zumindest. Wahrscheinlicher ist, dass er sich vor lauter Angst fast in die Hosen gemacht hat. Als er dann endlich wieder Manns genug war, nachzusehen und bei uns anzurufen, war es zu spät. Bis wir eintrafen, war sie längst tot.

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