Das rote Zimmer
zeichnen, schwerer als Füße, ja sogar schwieriger als Gesichter. Es ist fast unmöglich, die Proportionen richtig hinzubekommen. Meistens geraten die Finger zu groß und sehen aus wie Bananen, oder der Daumen steht in einem unnatürlichen Winkel ab.
Ich bekam es nicht richtig hin, und nach mehreren Versuchen gab ich auf. Ich war leicht beunruhigt, wusste aber nicht so recht, was mich mehr irritierte: der schwarze Slip in meinem Kühlschrank, der Regen, der gegen mein Fenster klatschte, oder das nagende Gefühl, dass mir irgendwas entging.
11. KAPITEL
Wenn man viel zu tun hat, strömt das Adrenalin von selbst. Statt mich an diesem Morgen in die Badewanne zu legen, bis ich Julie die Wohnung verlassen hörte, sprang ich rasch unter die Dusche und wusch mir das Haar. Ich machte mir nicht die Mühe, es trocken zu föhnen, sondern frottierte es nur schnell und steckte es dann hoch. Dann schlüpfte ich in ein Kleid und Sandalen und trank nebenbei Kaffee. Nachdem ich den Autoschlüssel und einen Apfel in meine Tasche geworfen hatte, gelang es mir, vorbei an Julie, die mit einer großen Tasse Tee am Küchentisch saß und so schläfrig wirkte wie eine Katze an einem sonnigen Plätzchen, hinauszuhuschen. Ich fuhr schnurstracks zur Welbeck-Klinik und parkte meinen Wagen an seinem alten Platz unter der Akazie. Der Morgen war neblig und feucht. Außer einer Putzfrau, die sich mit einem Staubsauger rückwärts durch die Eingangshalle bewegte, war noch niemand da.
In meinem Büro angekommen, zog ich die Tür hinter mir zu und öffnete die Fenster, die auf den kleinen Fleck Garten hinter dem Gebäude hinausgingen. In meinem Ausgangsfach lagen keine Papiere, dafür aber ein kleiner Berg im Eingangskorb. Patienten, mit denen ich Termine vereinbaren sollte, Überweisungen, um die ich mich kümmern musste, Briefe, die darauf warteten, beantwortet zu werden. Außerdem waren Formulare auszufüllen, Zeitungen zu lesen und Einladungen abzusagen. Mein Anrufbeantworter hatte neunundzwanzig Nachrichten für mich aufgezeichnet. Ich schaltete meinen Computer an und fand dort rund ein Dutzend E-Mails vor. Ich hatte mal irgendwo gelesen, dass ein viel beschäftigter Manager teilweise bis zu zweihundert E-Mails pro Tag bekam. Das war so ungerecht. Wieso konnte man die nicht auf die vielen Leute aufteilen, die allein in einem Zimmer saßen und von niemandem Nachrichten bekamen?
Gegen neun war der Berg an Schreibkram schon beträchtlich geschrumpft. Ich hatte Einladungen zu Konferenzen in drei verschiedenen Ländern abgesagt, die Bitten um Terminvereinbarung mit Patienten in Ja-, Nein-und Weiß-noch-nicht-Stapel sortiert und meinen Stundenplan mit befriedigenden kleinen Blöcken zugeteilter Zeit gefüllt. Rund um meinen Schreibtischstuhl lag zerknülltes Papier. Ich hörte, wie die Klinik langsam zum Leben erwachte: In anderen Büros klingelten Telefone, Türen fielen zu, vom Gang drang Stimmengemurmel zu mir herein. Ich ging zum Kaffeeautomaten, der im Erdgeschoss stand, und eilte mit meiner vollen Tasse zurück in mein Büro.
Dort zog ich die Notizen heraus, die ich mir zum Fall Lianne gemacht hatte. Ich starrte auf die Sätze, bis sie vor meinen Augen verschwammen, zu Hieroglyphen wurden.
Der einzige Mensch, der mir unter Umständen irgendwie weiterhelfen konnte, war der Leiter des Jugendhauses, in dem sie manchmal übernachtet hatte oder hingegangen war, wenn sie ganz dringend ein heißes Bad, eine warme Mahlzeit oder saubere Klamotten brauchte. Will Pavic hieß der Typ. Einem Impuls folgend, griff ich nach dem Hörer und wählte seine Nummer.
»Ja.« Die Stimme klang kurz angebunden und ungeduldig.
»Könnte ich bitte mit Will Pavic sprechen?«
»Ja.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen.
»Sind Sie Will Pavic?«
»Ja.« Diesmal klang die Stimme genervt.
»Guten Morgen. Mein Name ist Quinn, Dr. Quinn, und ich helfe der Polizei –«
»Tut mit Leid, mit der Polizei habe ich nichts zu tun.
Das werden Sie unter den gegebenen Umständen sicher verstehen.«
Das Gespräch wurde unterbrochen.
»Mistkerl«, murmelte ich.
Ich holte den Apfel aus meiner Tasche und aß ihn langsam, wobei ich nichts als den Stängel übrig ließ. Dann wählte ich meine eigene Nummer.
»Hallo!« Julie machte einen wesentlich lebhafteren Eindruck als zu dem Zeitpunkt, als ich meine Wohnung verlassen hatte.
»Ich bin’s, Kit. Ich muss dich was fragen, was mich schon den ganzen Morgen beschäftigt. Wieso liegt in meinem Kühlschrank ein
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