Das rote Zimmer
aber ich blieb sitzen und trank die Flasche Wein aus, während ich Akten studierte, die ich bereits gelesen hatte. Dann nahm ich mir die Karte noch einmal vor und stieß plötzlich eine Art Grunzen aus.
»Das ist es!«, sagte ich laut. Es war kein großer Heureka-Moment. Ich rannte nicht jubelnd im Zimmer herum, aber mir war etwas aufgefallen, das mich irritierte, und das war ja schon mal besser als nichts.
Als ich am nächsten Morgen das Büro von Detective Inspector Furth betrat, sah er mich an, als wäre ich erschienen, um seine Stereoanlage zu beschlagnahmen.
»Ja?«, fragte er.
»Mir ist da ein Gedanke gekommen.«
»Gut«, antwortete er forsch. »Deswegen hätten Sie aber nicht extra vorbeizuschauen brauchen. Sie können auch einfach anrufen. Das ist für alle Beteiligten weniger stressig.«
»Meinetwegen brauchen wir keine Gegner zu sein«, erklärte ich.
»Was meinen Sie damit?«, fragte er in unschuldigem Tonfall.
»Nicht so wichtig. Wollen Sie hören, was mir aufgefallen ist?«
»Ich kann’s kaum erwarten.«
»Vielleicht möchten Sie noch mal einen Blick auf die Karte werfen«, sagte ich.
»Ich habe meine eigene Karte.«
»Wollen Sie wirklich hören, was ich zu sagen habe?«
»Bitte verraten Sie mir Ihren Geistesblitz, ich platze sonst vor Neugier.«
Ich ließ mich gegenüber Furths Schreibtisch nieder. Der Stuhl war ungewöhnlich niedrig, sodass ich das Gefühl hatte, zu irgendeinem Herrn Vorsitzenden aufzublicken.
»Warum am Kanal?«, fragte ich.
»Weil es dort einsam ist.«
»Ja, aber sehen Sie sich die Karte an.« Ich breitete meine Fotokopie auf seinem Schreibtisch aus. »Es gibt am Kanal sehr einsame, abgelegene Stellen, aber dort wurde die Leiche nicht gefunden. Sehen Sie. Lianne wurde gar nicht weit vom Cobbett Estate gefunden.«
»Das ist abgelegen genug«, entgegnete Furth forsch-fröhlich.
»Ich kenne die Gegend. Sie ist schlecht beleuchtet, es gibt eine Menge Gebüsch, und nachts ist dort keine Menschenseele unterwegs. Außerdem konnte der Mörder in beide Richtungen entlang des Kanals entkommen oder rasch in eine der nahe gelegenen Straßen verschwinden.«
»Genau das ist mir aufgefallen, als ich mir die Karte angesehen habe. Man kann mit dem Auto fast bis zum Fundort der Leiche fahren. Sehen Sie. Von diesem Parkplatz hier ist es gar nicht weit.«
»Und?«
»Noch was hat mich irritiert. Lianne wurde die Kehle durchgeschnitten. Dabei wurde ihre Hauptschlagader durchtrennt. Ihre Kleidung war blutgetränkt. Ich habe im Bericht nachgesehen, wie viel Blut am Tatort gefunden wurde. Nichts.«
Furth zuckte mit den Achseln.
»Und?«
»Finden Sie das nicht seltsam?«
»Ganz spontan gesagt, eigentlich nicht. Wenn sie rückwärts gezogen wurde, ist das Blut wahrscheinlich nur auf ihr selbst und dem Mörder gelandet. Kleinere Blutflecken auf dem Boden sind vielleicht niemandem aufgefallen. Oder die Leute von der Spurensicherung haben es einfach nicht erwähnt. Wieso auch?«
»Das ist genau der springende Punkt. Was, wenn Lianne gar nicht am Kanal umgebracht worden ist? Was, wenn sie bereits tot war und dort nur abgeladen wurde? Der Mörder hat sich die Stelle ausgesucht, weil man mit dem Auto hinfahren konnte und es dort dunkel und einsam war, wie Sie ganz richtig gesagt haben.«
»Ist das alles?«, fragte Furth in forschem Ton.
»Ja.«
Er stand auf, trat an einen Aktenschrank und öffnete eine Schublade. Er blätterte kurz, zog eine braune Akte heraus, kam wieder zu mir herüber und warf sie vor mir auf den Schreibtisch. Ich griff danach und warf einen Blick darauf.
»Erkennen Sie das wieder?«
»Ja.«
»Die Aussage von Darryl Pearce. Er hat Liannes Leiche gefunden, wenn Sie sich erinnern. Haben Sie vergessen, wie er sie gefunden hat? Nachdem er ein lang gezogenes Stöhnen oder Schreien gehört hatte, stand er erst eine Weile blöd herum, der feige Scheißkerl. Schließlich fasste er sich doch ein Herz, stöberte im Unterholz herum und fand sie. Wie passt das zu Ihrer Argumentation? Hat Ihr Mörder mit seinem Auto eine Halbtote herangekarrt?
Wissen Sie, wie lang es dauert, bis ein Mensch nach einer solchen Verletzung stirbt?«
»Darüber habe ich auch nachgedacht«, antwortete ich.
»Warum zum Teufel sind Sie dann hier?«
»Eine der Regeln, an die ich mich zu halten versucht habe, besagt, dass man einem einzelnen Indiz nicht zu große Bedeutung beimessen soll. Weil es nämlich falsch sein könnte. Erinnern Sie sich an die Jagd nach dem Yorkshire Ripper? Da hat die
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