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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Farbe. Das war lustig«, erinnerte sie sich leicht wehmütig.
    »Lianne hat nicht oft gelacht. Die beiden haben mir erzählt, dass sie das Geld, das Lianne klaute, sparen wollten, um zusammen ein Restaurant aufzumachen.«
    Schweigen senkte sich über die Gruppe, während sie alle an die beiden Mädchen dachten, die inzwischen tot waren.
    Plötzlich wirkten sie kindlich und hilflos. Sogar Spike, der immer noch stand, die Hände in den Hosentaschen und die Zigarette im Mundwinkel, sah aus, als hätte es ihn kalt erwischt. Ich verhielt mich still, weil ich sie in diesem nachdenklichen Moment nicht stören wollte.
    »Einmal hat sie mich geküsst«, erklärte Laurie mit hochrotem Kopf, »nachdem ich ihr erzählt hatte, dass ich das noch nie gemacht habe.« Er verstummte. Carla nahm seine Hand und legte sie mit einer unerwartet rührenden und mütterlichen Geste auf ihren Schoß. »Jedenfalls hab ich es ihr erzählt, ich weiß auch nicht, warum, vielleicht, weil ich in der Woche ein Gespräch mit meinen Sozialarbeitern hatte und die mir eröffneten, dass es noch immer keine neue Pflegefamilie für mich gab, und ich mich an dem Tag so beschissen fühlte, ihr wisst schon, einsam oder sonst was, wie es einem halt hin und wieder passiert, und Lianne saß zufällig unten, da, wo der Snooker-Tisch steht, einfach so, ohne was zu tun, und sonst war niemand da. Und plötzlich hat sie mich geküsst.
    Sie hat mein Gesicht festgehalten und mich geküsst.«
    Seine Augen füllten sich mit Tränen. Carla tätschelte seine Hand.
    »Ich hab sie mal weinen gehört«, sagte Spike völlig unvermittelt. Seine Stimme klang heiser. Während er sprach, wich er in Richtung Tür zurück, als würde er jeden Moment flüchten wollen. Keiner sagte ein Wort. »Ich hatte sie erst am Vortag kennen gelernt und gleich mit ihr gestritten, weil sie mein Radio geklaut hatte und behauptete, es sei ihres. Sie war eine richtige kleine Diebin. Auf jeden Fall war es tagsüber, und ich kam gerade von irgendeinem Geschäft zurück.« Er warf mir einen verstohlenen Blick zu, ehe er weitersprach:
    »Jedenfalls hörte ich oben ein Geräusch. Ich wusste erst gar nicht, was es war, es klang so seltsam, wie eine Katze, die gequält wurde oder so was. Ich schlich mich hinauf und merkte, dass es aus ihrem Zimmer kam. Sie maunzte und wimmerte wie eine Katze. Ich stand eine Ewigkeit vor ihrer Tür, aber sie hörte einfach nicht auf. Sie weinte und weinte und weinte, als würde ihr das Herz brechen.«
    »Bist du reingegangen?«, fragte ich.
    Er runzelte die Stirn. »Ich wollte sie nicht in Verlegenheit bringen.«

    Ich streckte meinen Kopf durch Wills Tür. Er starrte auf seinen Computerbildschirm.
    »Überstunden?« Ich lehnte mich gegen die Wand. Meine Beine fühlten sich wacklig an, mein Kopf dröhnte vor Müdigkeit.
    »Was? Ja, ich schätze.«
    »Darf ich Sie was fragen?«
    »Mmm?«
    »Haben Sie zu Hause jemanden, der auf Sie wartet?«
    »Nein.«
    »Das dachte ich mir schon.« Ich sah ihn an. Sein Gesicht wirkte wie versteinert. Ich beugte mich vor, nahm es in beide Hände und küsste ihn auf die Lippen. Dann drehte ich mich um und ging. Und er blieb einfach sitzen.

    23. KAPITEL
    Die Leute sollten Spaß an ihrer Arbeit haben. Eine der größten Freuden im Leben besteht darin, aktiv zu sein, und arbeiten stellt nun mal für die meisten Menschen die Hauptaktivität dar. Was auch immer sie tun, es sollte ihnen Spaß machen. Irgendwie besitzt der Mensch ja die Fähigkeit, an den seltsamsten Dingen Freude zu haben, und das ist auch richtig so. Ich würde diese Fähigkeit, es sich gut gehen zu lassen, fast als eine Art Antidepressivum bezeichnen, als eine Therapie gegen Langeweile und Angstgefühle. Ich weiß das und empfinde es auch so, aber manchmal scheint es trotzdem schwer zu ertragen.
    Als ich zwölf war, wurde meine Großmutter beerdigt.
    Wir gingen zunächst ins Krematorium, dann in den so genannten Gedächtnisgarten, einen Bereich mit kurz getrimmten Hecken und einer kleinen Rasenfläche, die sich gut als Miniaturübungsplatz für Golfer geeignet hätte.
    Die Erwachsenen standen verlegen herum und lasen die Widmungen auf den Kränzen. Nach ein paar Minuten schlenderte ich davon. Ich kann mich noch an zwei Dinge erinnern: dass ich aus dem Kamin Rauch hochsteigen sah und mich fragte, ob das wohl meine Großmutter war. Und dass ich, als ich um die Ecke auf den Parkplatz für die Leichenwagen bog, die Leute vom Bestattungsinstitut auf den Motorhauben ihrer Wagen sitzen

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