Das rote Zimmer
erzählt hat, in dem sie war«, fuhr Sylvia fort, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. »Sie hat dort durchzusetzen versucht, dass eine Freundin an Weihnachten bei ihr im Zimmer übernachten durfte. Sie schliefen sowieso in nebeneinander liegenden Zimmern, es war also keine große Sache, aber sie erlaubten es trotzdem nicht. Das ist typisch für die Art, wie solche Heim geführt werden.
Immer nur Verbote. Sie haben gesagt, es sei nicht erlaubt, zu zweit in einem Zimmer zu schlafen. Das sei gegen die Regeln. Lianne hat erzählt, dass sie und ihre Freundin sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert haben und einfach nicht mehr rausgekommen sind. Am nächsten Tag sind sie damit bestraft worden, dass sie nicht am Weihnachtsessen teilnehmen durften. Crackers oder so was haben sie auch nicht gekriegt. Aber sie war trotzdem froh, es gemacht zu haben, schon aus Prinzip. Sie hat mir aber nicht erzählt, wo dieses Heim war. Sie hat aus vielen Sachen ein großes Geheimnis gemacht.«
»Wir haben sie auch nicht gefragt.«
»Wir respektieren hier anderer Leute Privatsphäre.«
»Ich weiß, dass sie manchmal im Park geschlafen hat.
Sie meinte, das sei besser als die meisten dreckigen Jugendherbergen hier in der Stadt.«
»Glaubt ihr, sie war in vielen verschiedenen Heimen?«, fragte ich.
»Wahrscheinlich«, antwortete Sylvia. »Das ist bei den meisten von uns der Fall, wenn man erst mal ein gewisses Alter erreicht hat.« Ihr schönes Gesicht wirkte bei diesen Worten sehr ernst, ihr Ton fast selbstgefällig. »Wenn sie eine Ausreißerin war, stehen die Chancen recht gut, dass sie viel herumgekommen ist.«
»Sehen Sie mich an.« Ich wandte mich Catrina zu. »Ich war in zwölf Pflegefamilien und acht Heimen.«
»Ich lebte mal fast zwei Jahre bei einer Pflegefamilie«, mischte sich Laurie ein. Hinter dem Wust von Haar wirkte sein Gesicht pausbäckig und jung. Er war wohl kaum älter als vierzehn.
»Ja? Und was hast du falsch gemacht?«, fragte Catrina.
»Sie sind in den Norden raufgezogen. Sie haben gesagt, in ihrem neuen Haus hätten sie nicht genug Platz. Es hat sich wirklich cool angehört, mit Garten und allem Drum und Dran. Nahe am Meer.« In seiner Stimme schwang kein Selbstmitleid mit. Er klang ziemlich sachlich.
»Wisst ihr was über Liannes sexuelle Beziehungen?«, fragte ich vorsichtig. Sie schwiegen. Spike drückte mit einer heftigen Bewegung seine Zigarette aus. »Ich frage das nur, weil es vielleicht hilfreich sein könnte. Glaubt ihr beispielsweise, dass sie missbraucht worden ist?«
»Wahrscheinlich«, antwortete Sylvia ungerührt.
Spike rüttelte laut am Griff des Kickerautomaten. Er hatte das Gesicht zu einer hässlichen, höhnischen Grimasse verzogen. Ich hatte das Gefühl, dass er in Wirklichkeit mit den Tränen kämpfte.
»Wieso glaubst du das?«
»Falls sie tatsächlich lange Zeit ein Heimkind war, meine ich.«
»Du meinst, bei Jugendlichen, die lang im Heim waren, ist damit zu rechnen, dass sie sexuell missbraucht worden sind?«
»Also, mir reicht das jetzt«, erklärte Spike. »Ich verschwinde.«
Aber er rührte sich nicht von der Stelle.
Ich musterte ihn. Sein vorher so bleiches Gesicht war jetzt stark gerötet, seine Wangen rot gefleckt. »Ihr geht also davon aus, dass sie sexuell missbraucht worden ist?«
»Nicht notwendigerweise sexuell, würde ich sagen«, meinte Catrina, »aber man trägt immer einen Schaden davon, wenn Sie wissen, was ich meine. Man hört ziemlich schnell auf, ein Kind zu sein.«
»Man traut keinem mehr«, pflichtete Laurie ihr bei.
Endlich fasste er sich ein Herz und ließ sich zwischen den Mädchen nieder, während Spike sich nach wie vor neben der Tür herumdrückte. Ich holte noch einmal meine Zigarettenschachtel hervor, und er kam näher, um sich eine zu nehmen, blieb aber immer noch stehen.
»Gab es Jungs in ihrem Leben?«
Sie sahen sich an.
»Ich habe nichts mitbekommen«, erklärte Sylvia. »Und sie hat auch nie was erzählt. Viele erzählen das ja ganz offen, prahlen gern damit, aber Lianne hat nie was in dieser Richtung erwähnt. Was natürlich auch damit zu tun haben könnte, dass wir sie nicht so gut kannten. Oder was meint ihr?« Sie blickte in die Runde, und die anderen nickten.
»Sie war eng mit Daisy befreundet«, bemerkte Carla.
»Ich weiß noch, dass sie sich mal gegenseitig die Zehennägel lackiert haben. Ich bin in Liannes Zimmer gekommen, und sie saßen kichernd da und lackierten sich gegenseitig die Zehennägel. Jeden Nagel in einer anderen
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