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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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sah. Es war ein warmer Frühlingstag, einige von ihnen hatten ihre Jacken ausgezogen und die Ärmel hochgekrempelt. Sie rauchten und unterhielten sich. Ein paar lachten über einen Witz, den ich nicht verstand, weil ich zu weit weg war.
    Eigentlich hätte ich mit meinen zwölf Jahren nicht mehr so naiv sein dürfen, aber mir wurde erst in diesem Moment klar, dass die Leute vom Bestattungsinstitut nicht wirklich traurig über den Tod meiner Großmutter waren –
    dass sie ihnen im Grunde völlig egal war. Als ich mit meinem Vater zurückfuhr, berichtete ich erbost, was ich gesehen hatte, und legte ihm nahe, diesen Leuten keinen Pfennig zu bezahlen, weil sie so respektlos gewesen seien.
    Mein Vater erklärte mir geduldig, dass die Männer vom Bestattungsinstitut jeden Tag zu zwei oder drei Beerdigungen müssten und nicht um jeden Toten trauern könnten. Warum nicht?, fragte ich. Das war schließlich ihr Job.
    Es gelang meinem Vater nicht, mich zu überzeugen. Ich kam zu dem Schluss, dass nur völlig gefühllose Menschen diesen Beruf ergreifen konnten. Einen guten, empfindsamen Menschen hätten die vielen Toten und der ständige Kummer in den Wahnsinn getrieben. Demnach mussten die Leute, die diesen Job machten, durchweg Psychopathen sein, die in der Lage waren, erst eine ernste Miene aufzusetzen, während sie den Sarg trugen, und dann nach Hause vor den Fernseher eilten oder mit ihren Kindern spielten und ihrer Frau erzählten, dass sie einen guten Arbeitstag gehabt hätten.
    Natürlich war ich inzwischen erwachsen geworden und hatte gelernt, dass der Arzt, der die defekte Herzklappe eines Babys operierte, keineswegs so besorgt war wie die Mutter des Kindes.
    Was also erwartete ich von Oban, Furth und dem Rest des Teams, zu dem auch einige wenige Frauen gehörten?
    Sie setzten die von ihnen erwartete ernste Miene auf und sprachen die dazu passenden Worte, solange die Kamera auf sie gerichtet war. Es handelte sich um einen schrecklichen Fall, und alle, die damit zu tun hatten, waren zutiefst geschockt. Trotzdem hatten sie gleichzeitig eine Menge Spaß. Zum Beispiel DCI Oban. Er war nicht direkt in Festtagslaune, aber sein Gang wirkte plötzlich viel federnder. Was ja durchaus verständlich war. Erst hatte man ihm einen dubiosen, hoffnungslosen Mordfall aufs Auge gedrückt, den kein anderer haben wollte und für den sich niemand interessierte, es sei denn, bei den Ermittlungen lief etwas schief. Nun hatte sich dieser Fall wie durch ein Wunder in den Mordfall des Jahres verwandelt, und jeder wollte sein Freund sein.
    Als ich am Morgen nach meinem Besuch in Kersey Town in seinem Büro erschien, kam ich mir vor, als versuchte ich beim Premierminister vorzusprechen. »Sind Sie in Eile?«, fragte er, nachdem er mich mit einem freundlichen Nicken begrüßt hatte.
    »Geht so«, antwortete ich.
    »Gut«, antwortete er. »Dann können Sie mich ein Stück begleiten, und wir reden unterwegs.«
    Ein schwieriges Unterfangen. Unterwegs zur nächsten Besprechung nahm er einen Anruf nach dem anderen entgegen. Ein paar Minuten Verspätung waren ohnehin eingeplant, weil das allen zeigte, dass er in diesem Stück die Hauptrolle spielte. Es war, als würde man vom Bahnsteig aus mit jemandem reden, dessen Zug sich gerade in Bewegung setzte. Als ich ihm von meinem Gespräch mit den jungen Leuten erzählen wollte, die Lianne gekannt hatten, unterbrach er mich schon nach wenigen Augenblicken: »Muss ich das wirklich wissen, Kit?«
    »Hören Sie, Oban …«
    »Dan.«
    »Der Hintergrund der Opfer ist das Einzige, was wir haben.«
    Er blieb einen Moment stehen. »Da bin ich nicht so sicher. Solange mir keiner konkrete Beweise liefert, müssen wir uns an das halten, was ich auf der Pressekonferenz gesagt habe, und davon ausgehen, dass wir es mit einem Täter zu tun haben, der lediglich die Gunst der Stunde genutzt hat. Haben Sie schon mit Seb gesprochen? Er ist derselben Meinung.«
    »Nein, ich habe noch nicht mit ihm gesprochen.« Ich schob dieses Gespräch schon seit Tagen vor mir her. Das war einer der Gründe, warum ich auf Poppys Anrufe nicht reagiert hatte – ich wollte nicht statt ihrer Seb an der Strippe haben.
    »Ich treffe mich gleich mit ihm«, erklärte Oban. »Dann können Sie das mit ihm besprechen.«
    »Das wird nicht nötig sein.«
    »Ich möchte keine Rivalität zwischen Ihnen beiden.«
    »Da gibt es keine Rivalität.«
    »Ach, übrigens, Kit, haben Sie mit irgendjemandem über unseren Mr. Doll gesprochen?«
    »Nein«, antwortete

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