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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Michael Doll starrte Julie und mir aus einem Durcheinander riesiger, reißerischer Schlagzeilen entgegen: »VERHAFTUNG IM
    PIPPA-MORD. ›ICH BIN UNSCHULDIG‹
    BEHAUPTET PIPPA-VERDÄCHTIGER. ›SCHRÄGE‹
    VERGANGENHEIT DES PIPPA-VERDÄCHTIGEN.«
    Pippa. Schon wieder dieser Name. Die richtige Länge für eine Schlagzeile. Und wo war Lianne? Wer dachte an sie? Ich überflog die Zeitungen. Es war alles da. Die Befragung, ein verdächtig detaillierter Bericht über alles, was die verkabelte Colette in Erfahrung gebracht hatte, die
    »verfahrenstechnischen Gründe«, die dazu geführt hatten, dass Doll wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. Außerdem ein skizzenhafter Abriss seines Lebens: Kinderheim, Jugendheim, kleinere Sexualdelikte. Eine junge Frau von der
    Daily News hatte es geschafft, ein
    »Exklusivinterview« zu bekommen – als ob es ein Problem wäre, diesen bemitleidenswert einsamen Mann dazu zu bringen, mit einer jungen Frau zu sprechen.
    Zumindest fiel in diesem Artikel auch einmal der Name Lianne. Doll brüstete sich damit, dass er zum betreffenden Zeitpunkt in der Nähe des Tatorts gewesen sei. Um noch einen draufzusetzen, stritt er ab, zum Kreis der Verdächtigen gehört zu haben. Nein, ganz im Gegenteil, erklärte er, er sei ein wichtiger Zeuge, der einzige Mensch, der überhaupt etwas gesehen habe. Neben dem Artikel war ein Foto abgedruckt, das ihn mit stolzer Miene in seinem Zimmer zeigte.
    Dolls Zimmer. Die Beschreibung dieses Zimmers durch die Journalistin – eine reiche, clevere Frau, die diesem verzweifelten, armen, verkorksten Mann gegenübergesessen hatte – war für sich selbst genommen bereits eine Art von Anklage. Dagegen wirkte der Schluss des Artikels auffallend vorsichtig formuliert, als hätte der Verfasserin dabei ein Jurist über die Schulter geblickt:
    »Wir wollen damit nicht andeuten, dass Mickey Doll irgendwie an dem Verbrechen beteiligt war. Er gehört nicht zum Kreis der Verdächtigen. Es liegen keinerlei Beweise vor, die ihn mit den tragischen Morden an Lianne und der jungen Mutter Philippa Burton in Verbindung bringen. Trotzdem sind Männer wie Mickey Doll mit seinen durch Pornos angeregten Fantasien und seiner kriminellen Vorgeschichte eine offensichtliche Bedrohung für die Gemeinschaft, unsere Familien und Kinder. Indem wir einen Mann wie Doll beim Namen nennen, sein Foto abdrucken und seinen Wohnort preisgeben, rufen wir selbstverständlich nicht zu irgendwelchen Aktionen gegen ihn auf. Das wäre zwar verständlich, aber gegen das Gesetz, egal, wie gerechtfertigt die Sorgen der normalen Bürger auch sein mögen. Es ist nun an den Politikern, endlich zu handeln.«
    Julie griff nach der Zeitung mit dem Interview und las es, während sie langsam ihren Kaffee trank und dazu eine Schüssel Obst verspeiste. »Hmm«, sagte sie, als sie fertig war. »Das ganze Ausmaß seines Charmes kommt da nicht wirklich rüber.«
    Am nächsten Tag erzählte mir Oban – recht beiläufig, wie ich fand –, dass Doll im Krankenhaus sei. Ein besorgter Bürger sei in einem Pub zu ihm hingegangen und habe ihm eine zerbrochene Flasche ins Gesicht gerammt. »Jetzt hat er auch eine Narbe«, fügte er fröhlich hinzu. »Er hat angeblich nach Ihnen gefragt, aber wenn ich Sie wäre, würde ich ihn nicht besuchen.«
    »Nein, das ist wahrscheinlich keine gute Idee«, gab ich ihm mit einem Anflug schlechten Gewissens Recht, und verdrängte Doll ganz schnell aus meinem Kopf.

    24. KAPITEL
    Zwei Tage nach dem Angriff auf Doll suchte ich ein weiteres Mal die Burtons auf, nicht weil ich es für eine besonders viel versprechende Idee hielt, sondern weil Oban mich dazu drängte. »An dem Typen ist irgendwas seltsam«, sagte er.
    »An den meisten Menschen ist irgendwas seltsam«, erwiderte ich.
    »Er wirkt nicht betroffen genug.«
    Ich fragte mich, was er damit meinte. Auf mich hatte Jeremy Burton mit seinem niedergeschlagenen, müden Gesichtsausdruck durchaus betroffen gewirkt. Gab es denn ein richtiges Maß an Trauer? Wie ließ sich das messen?
    Ich musste an die zahllosen Leute denken, die an der Stelle, wo Philippas Leiche gefunden worden war, Blumen niedergelegt und für die hübsche junge Mutter und das kleine Mädchen Tränen vergossen hatten. War das echte Trauer? Natürlich teilte ich Oban meine Gedanken nicht mit – er hätte bloß ironisch die Augenbrauen gehoben und statt meiner Seb geschickt.
    Wie mit Jeremy Burton vereinbart, fuhr ich am Sonntagvormittag hin. Philippas Mutter öffnete mir die Tür

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