Das rote Zimmer
Besuch von einer Freundin.« Sie gab mir das Gefühl, als hätte ich mich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen bei ihnen eingeschlichen.
»Ja, natürlich.« Ich legte die Sachen, die ich noch in der Hand hielt, vorsichtig in die Pappschachtel. »Auf Wiedersehen, Emily.«
»Und das Schneckenhaus«, sagte sie, ohne hochzublicken.
»Das Schneckenhaus ist hübsch. Hübsche Sachen haben ihr immer gut gefallen.«
Albie rief mich an. Er wolle nur hallo sagen und hören, wie es mir gehe. Ich hielt das Telefon ganz vorsichtig, als könnte es mich verletzen, und wartete. Wir warteten beide darauf, dass der andere etwas sagen würde. Dann verabschiedeten wir uns sehr höflich.
Ich rief meinen Vater an, aber er war nicht zu Hause. Ich wollte von jemandem hören: »Das Leben kann hart sein, aber mach dir keine Sorgen, mein Liebling, alles wird wieder gut.«
Ich wollte, dass mich jemand ganz fest in den Arm nahm und mir übers Haar streichelte. Ich sehnte mich nach meiner Mutter. Lächerlich, aber wahr. Würde mich dieses Gefühl denn niemals verlassen? Konnte es sein, dass ich meine Mutter bis ans Ende meines Lebens vermissen würde? Dass auch weiterhin kein Tag vergehen würde, an dem sie mir nicht fehlte? Ich griff nach dem Telefon, um Will anzurufen. In meiner Wohnung war es so still, dass ich das Ticken meiner Armbanduhr hören konnte. Aber ich ließ es bleiben. Was sollte ich ihm sagen? »Ich bin allein, komm bitte vorbei und nimm mich in den Arm?«
Ich schenkte mir ein Glas Wein ein und zündete zwei Kerzen an. Dann schaltete ich das Licht aus und legte mich aufs Sofa. Irgendwo im Halbdunkel surrte eine Stechmücke. Draußen begann es zu regnen. Was wusste ich schon von diesem Mann? Nichts, außer dass er einen erstklassigen Job in der City aufgegeben hatte, um stattdessen ein Haus für obdachlose junge Leute zu betreiben, die durch sämtliche Sicherheitsnetze gefallen waren. Dass ihm die Polizei misstraute und ihn verdächtigte, in seinem Haus Drogenhandel zu dulden.
Dass er oft mürrisch und schlecht gelaunt war und zu einer düsteren Weltsicht neigte. Trotzdem begehrte ich ihn in diesem Moment, weil er so ganz anders war als der überschwängliche Albie, und weil er aussah wie eine Krähe, ein einsamer Vogel. Ich wollte mich in sein zerzaustes Elend einhüllen und dafür sorgen, dass es uns beiden wieder besser ging.
Wie sich herausstellte, musste ich Will gar nicht anrufen, weil er von selbst zu mir kam. Am folgenden Abend – ich hatte einen anstrengenden Tag hinter mir und lag bereits im Bett – klingelte es an der Tür. Ich schlüpfte in meinen Bademantel und warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon nach Mitternacht, wahrscheinlich hatte Julie mal wieder ihren Schlüssel vergessen. Ich stolperte zur Tür, noch in seltsamen Träumen gefangen. Draußen stand Will, und als er mich sah, sagte er mit einem Achselzucken:
»Ich konnte nicht schlafen.«
Ich trat einen Schritt zur Seite, und er ging vor mir die Treppe hinauf. Nachdem er sich auf dem Sofa niedergelassen hatte, schenkte ich ihm ein großes Glas Whisky ein, und mir selbst ein kleineres. Ich fühlte mich sehr unwohl in meiner Haut, musste an meine zerzausten Haare und meinen schäbigen Bademantel denken.
Außerdem wusste ich nicht, was ich mit ihm reden sollte.
Hier in meiner Wohnung erschien er mir plötzlich so groß und fremd. Wie hatte ich es je wagen können, ihn zu küssen oder von ihm zu träumen? Er hatte noch nicht mal seinen Mantel ausgezogen und starrte in sein Glas, als könnte er darin eine Antwort finden.
Am Ende tat ich den ersten Schritt, weil ich die Düsterkeit meines Wohnzimmers und dieses erdrückende Schweigen nicht länger ertragen konnte. Ich ging zum Sofa und beugte mich zu ihm hinunter. Ich küsste ihn nicht, das erschien mir zu intim. Stattdessen knöpfte ich erst seinen Mantel auf, dann das Hemd. Er lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück, während ich zögernd seinen bleichen Körper berührte, den Blick auf sein Gesicht gerichtet. Ohne die Augen zu öffnen, streckte er die Arme aus und nahm mein Gesicht in beide Hände. Ich setzte mich rittlings auf ihn, zog meinen Bademantel auseinander, presste seinen Kopf an meine Brust und lauschte dem wilden Pochen meines Herzens. »Du solltest aufpassen«, murmelte er.
Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, es war mir auch egal. Wir waren bloß zwei Fremde, die Trost brauchten. Draußen blies der Wind Wellen von Regen gegen das Fenster.
25. KAPITEL
Als mich das
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