Das Sakrament
zog ihren Rosenkranz hervor und betete, und in seiner stummen und blinden Wache betete Angelu mit ihr. Zumindest glaubte sie das.
Manchmal übermannte Carla das Mitleid. Tränen rannen ihr über das Gesicht, und ihre Stimme brach, doch sie brachte ihr Mitleid Gott dar und bat Ihn um Vergebung für ihre selbstsüchtigen Sorgen. Sie gab Angelu zu essen, hob ihm Becher mit Wein und Wasser an die Lippen. Sie fragte sich, warum er nicht sprach, ob er vielleicht gar nicht mehr sprechen konnte, weil ihm das Feuer auch den Hals versengt hatte, aber sie hatte nicht zu fragen, sondern zu dienen. Sie betete mit ihm und für ihn und für alle hier. Während die Stunden vergingen und die Ave Marias wie ein endloses heiliges Lied durch sie strömten, verging ihr Schrecken, denn er war eigentlich nur eine Beschwerde ihrer eigenen schwachen Sinne, bedeutete nur eine weitere Verletzung für den Mann, der hier vor ihr lag und so schrecklich litt. Damit löste sich auch ihr Mitleid auf. Mitleid bedeutete nur, daß sie ihn als ein geringeres Menschenwesen als sich selbst betrachtete. Selbst ihre Trauer verglühte zu Asche, und an ihrer Statt erfüllte eine leuchtendeLiebe ihr ganzes Wesen. Carla begriff, daß Christus in ihr war, in Körper und Seele, sie mit einer Kraft erfüllte, die jenseits all ihrer Erfahrung und Erwartung lag. Die Liebe Christi durchströmte sie wie eine Offenbarung, und sie verstand und wußte, daß durch eine solche Liebe alle Sünden vergeben wurden, auch die Grausamkeiten, die ringsum in solcher Zahl verübt wurden. Carla wollte das Angelu sagen und schlug die Augen auf, um ihn anzusehen: seinen halben Schädel und sein halbes Gesicht, die matten, versengten Augäpfel, die sich unter verbrannten Augenlidern hervorwölbten, die verschrumpelten Klauen, die unten an seinen Armen zitterten. Angelu ging seine eigene Straße nach Golgatha. Er hatte Christus in ihr Herz eingeladen.
Sie sagte: »Jesus liebt dich.«
Angelus Kopf zuckte zurück, sein Mund verzerrte sich. Carla wußte nicht, was das zu bedeuten hatte, ob sie ihn verletzt hatte oder ob er einfach ihre Worte nicht gehört hatte. Einen Augenblick lang verspürte sie Furcht.
Sie wiederholte: »Jesus liebt dich.« Und fügte noch hinzu: »Und ich liebe dich.«
Angelus Lippen bebten. Sein Atem stockte. Carla streckte die Hand aus und legte sie ihm auf die Schulter. Es war das erste Mal, daß sie ihn zu berühren wagte. Sachte, denn selbst in dieser Finsternis hatte ihn seine Stärke noch nicht ganz verlassen, neigte Angelu den Kopf und begann zu weinen.
Später hörten sie die Messe. Carla half Angelu sich hinzuknien, während sie die Heilige Kommunion empfingen, und wenn er »Amen« gesagt hatte, dann hatten es weder sie noch der Kaplan gehört. Danach reichte sie ihm eine Rindsbrühe aus der Silberschüssel. Als sie sah, daß er keinen Appetit hatte, stellte sie das Essen zur Seite. Da der gesamte Krankensaal während der Essenszeit sehr geschäftig war, überlegte sie, ob es ihm vielleicht etwas ausmachte, nicht zu wissen, wer seine seltsame Gefährtin war, und sie erzählte ihm, so gut sie konnte, von sich und vom Grund ihrer Reise hierher – der Suche nach ihrem verlorenen Sohn, dessen Namen sie nicht einmal kannte. Angelu schwieg die ganzeZeit über, und inzwischen war Carla überzeugt, daß er nicht in der Lage war, überhaupt zu reden. Dann schwieg auch sie und dachte darüber nach, ob sie ihm nicht auch von Mattias Tannhäuser erzählen sollte.
An jenem Tag hatte sie öfter als für alle anderen für Mattias gebetet. Sein Bild war stets in ihrem Herzen. Er war ein Deutscher. Die Deutschen standen in dem Rufe, gleichermaßen brillant und barbarisch zu sein. Es floß kein Tropfen adeliges Blut in seinen Adern, und doch verhielt Mattias sich im Kreise der Ordensritter – einer Kongregation, die vom Adel geradezu besessen war –, als wäre er im königlichen Purpur geboren. Seine Bewunderung für die Türken schien höher zu sein als seine Meinung von den Franken, und doch hatte er sich gegen sie gewandt. Er hatte ohne Skrupel einen Priester ermordet, und doch waren Sanftheit und Höflichkeit so sehr in seiner Natur verwurzelt, wie sie es noch nie bei einem anderen Mann gesehen hatte. Er glaubte an keinen Gott, dem er einen Namen geben konnte. Trotzdem war er voll des göttlichen Wunders. Seine fleischlichen Gelüste waren völlig ungezügelt, wie auch seine Leidenschaft für Schönheit und Wissen, und doch hatte er ohne ein Wort des Bedauerns
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