Das Sakrament
könnte. Carla schaute die Stufen des Hospitals herunter, wo zwei junge Malteser standen. Der ältere der beiden war vielleicht zwanzig Jahre alt und hatte einen frisch verbundenen Stumpf, wo einmal sein rechterUnterarm gewesen war. Sie erkannte ihn vom Krankensaal wieder. Er war gestern angekommen und am Abend wieder entlassen worden. Sein Gesicht war noch blaß vor Schmerzen, die Augen lagen tief in den Höhlen, noch vom Schock der Schlacht benommen.
Der jüngere, kaum mehr als ein Junge, war vielleicht vierzehn Jahre alt. Er stand barfuß und ungewaschen vor ihr. Das Leben, das er hatte führen müssen, hatte das glatte, junge Fleisch völlig aufgezehrt. Er hatte messerscharfe Wangenknochen und eine Adlernase. Seine Augen waren dunkel und wild, als könnte er kaum die Energie zurückhalten, die in ihm aufgestaut lauerte. Er trug einen Panzer und einen Helm, die an der Klinge eines Schwertes in der Scheide hingen, und Carla nahm an, daß diese Utensilien dem anderen jungen Mann gehörten. Im Gegensatz zu seinem Freund, der die Augen gesenkt hatte, als sie ihn anschaute, blickte der Junge sie mit unverhohlener Neugier an. Carla fragte sich, was er wohl in ihr sah.
Amparo stellte den Armamputierten als Tomaso vor. Er trat einen Schritt zurück, neigte respektvoll den Kopf. Der jüngere, größere Junge konnte kaum ein Grinsen unterdrücken.
»Das ist Orlandu«, sagte Amparo.
Orlandu machte eine kunstvolle Verbeugung, und Carla überlegte, ob er sie vielleicht verspottete. »Orlandu di Birgu«, sagte er. Mit großem Vergnügen fügte er hinzu: »Zu Euren Diensten, Madame.«
Seine Zähne strahlten hell in seinem schmutzigen, sonnengegerbten Gesicht. Carla unterdrückte ihrerseits ein Lächeln. »Du sprichst auch Französisch«, sagte sie.
Er zuckte die Achseln. »Französisch, Italienisch, Spanisch. Alles. Spanisch sehr gut. Vom Hafen, den Rittern, den Reisenden.« Er deutete mit dem Finger auf sein Ohr, dann sein Auge. »Ich höre zu, ich beobachte. Auch ein bißchen Arabisch, von den Sklaven. Assalamu alaykum. Das bedeutet Friede sei mit euch .«
Seine Prahlerei erinnerte Carla plötzlich an Mattias. »Und dein Freund?« fragte sie. »Spricht der auch viele Zungen?«
»Tomaso spricht nur Maltesisch, aber er ist tapfer, sehr tapfer.Wir arbeiten an den Schiffen. Jetzt kämpft er mit den Helden in St. Elmo.« Das Französisch des Jungen war in eine seltsame Mischung aus Sprachen eingemündet, blieb jedoch recht fließend. Carla nickte. Tomaso, der sich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit nicht sonderlich wohl fühlte, senkte schweigend den Kopf. Orlandu sagte: »Ihr seid die Contessa, die nach dem verlorenen Jungen sucht. Dem Bastard.«
Carla schaute Amparo an, deren Augen die entscheidende Frage stellten. Gleichzeitig flossen sie vor Hoffnung über. Bitte sag mir, daß er es ist.
»Habt Ihr ihn schon gefunden?« fragte Orlandu kühn.
Plötzlich fühlte sich Carla bedrängt. »Du weißt von dieser Sache?« fragte sie.
»Natürlich. Jeder weiß es. Der große Hauptmann fragt. Tannhäuser.« Orlandu sprach den Namen aus, als sei er ungeheuer stolz, ihn zu kennen. »Der große Engländer auch. Sie fragen, die Leute hören es, sie reden. Ihr seid überrascht?«
Orlandus Verwunderung darüber, daß Carla überrascht war, gab ihr das Gefühl, ein wenig dumm zu sein, und doch fand sie seine prahlerischen Worte zu bezaubernd, als daß es sie gestört hätte. Konnte er es wirklich sein? Sie durchforschte ihr Herz und verspürte nichts. Panik stieg in ihr hoch. Sie schüttelte den Kopf.
Orlandu sagte: »Ich glaube nicht, daß Ihr ihn finden werdet.«
»Warum nicht?« fragte Carla.
»Zwölf Jahre alt, ja? Am Vorabend von Allerheiligen geboren, ja?«
»Ja.«
Er zeigte strahlend die Zähne. »Ich weiß davon. Ich höre zu. Ich beobachte.« Er deutete mit dem Schwert in die Nacht hinein. »Heute morgen. Hauptmann Tannhäuser hat die Kanonen der Türken am Galgenpunkt unschädlich gemacht.«
Carlas Furcht wandte sich einem neuen Thema zu. »Wo ist er jetzt?«
»Tannhäuser?« Orlandu zuckte mit übertrieben geheimnisvoller Geste die Achseln. »Er kommt. Er geht. Man sagt, daß sein PferdBuraq Flügel hat.« Der Junge schaute zu Amparo, als wäre sie die Quelle dieser Legende. »Amparo hat gesagt, ich darf ihn kennenlernen. Mit Eurer Erlaubnis.«
»Gewiß, aber sage mir, warum werde ich den Jungen nicht finden?«
»Weil Ihr ihn noch nicht gefunden habt«, erwiderte der Junge, als könnte nichts offensichtlicher
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