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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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eine Augenbraue in die Höhe.
    Nachdem La Valette gegangen war, trat Pater Lazaro zu Carla und deutete an, daß es nun Zeit sei, nach Hause zu gehen. Er sprach keine Lobesworte, und doch schien sein Verhalten freundlicher als zuvor. Carla spürte, daß sie sich ehrenvoll geschlagen hatte. Als Lazaro fort war, wandte sie sich Angelu zu.
    »Ich muß jetzt gehen, Angelu«, sagte sie. »Danke für alles, was du mir gegeben hast.«
    Sie stand auf.
    »Kommt Ihr wieder, meine Dame?« fragte Angelu.
    Sie schaute ihn an. Es war das erstemal, daß er gesprochen hatte, und so wie er fragte, hatte sie das Gefühl, daß er sein Lebenin ihre Hände gelegt hatte. Einen Augenblick lang war ihr der Hals wie zugeschnürt.
    »Ja, natürlich«, antwortete sie. »Gleich morgen früh.«
    Angelu streckte seine beiden verunstalteten Hände aus, als würde er sie falten, wenn er könnte. »Gott segne Euch, meine Dame. Möge er Euch sicher zu Eurem Jungen führen.«
    Carla traten die Tränen in die Augen. Ihre Stimme versagte. Sie wandte sich ab und eilte auf den Türbogen zu.
    Als Carla den Krankensaal verließ, tobten wilde Gefühle in ihrer Brust. Sie hatte etwas von sich hergeschenkt, das Gottes Wohlgefallen gefunden hatte. Das war für sie ungewohnt – und wunderbar. Ihr Leben hatte nur aus Nehmen und Beraubtwerden bestanden. Sie hatte wie ein Korken auf den Wellen getanzt. Ihre Mildtätigkeit war unpersönlich gewesen, sie hatte damit in ein ewiges Leben investiert, das ihr nicht zustand. Sie hatte sich Amparos angenommen, um ihre eigene Einsamkeit zu lindern. Sogar nach dem Jungen suchte sie vielleicht nur, weil sie die Schuldgefühle mildern wollte, die ihr am Herzen nagten. Nun aber hatte Christus sie mit göttlicher Liebe erfüllt, einer Liebe zur gesamten Schöpfung, einer Liebe selbst zu ihrem eigenen Unglück. Schließlich stimmte es doch, daß man unter den Unglücklichsten Christus am leichtesten fand. Carla ging zwischen den Reihen verwundeter Männer hindurch, deren Schmerz sich in gemurmelte Gebete verwandelte. Später, wenn die Nachtboote von St. Elmo frische Verletzte brachten, würden wieder Schreie aus den Operationssälen zu hören sein, wo Lazaro die Nachtstunden verbringen würde.
    Die Abendluft an der Schwelle war so süß, daß ihr beinahe die Sinne schwanden. Carla blieb stehen und schloß die Augen, weil sie zu fallen fürchtete. Noch immer krachten im Norden die Kanonen. Sie roch in der Abendbrise den Duft von Kochstellen und Fleisch und verspürte Hunger, wie sie ihn noch nie gekannt hatte. Wohlverdienten Hunger. Wie merkwürdig, sich so lebendig zu fühlen inmitten von so viel Tod! Wie schrecklich! Auf Erden gabes keinen tragischeren Ort, und doch hätte sie nirgends anders sein mögen. Das Leben, das sie gekannt hatte, die Frau, die sie gewesen war, beides schien unendlich weit weg zu sein. Was würde aus ihr werden, wenn dies hier einmal zu Ende war?
    Sie spürte eine Hand auf dem Arm. »Carla?«
    Sie öffnete die Augen und sah Amparo, die sie anschaute. Ihre Augen leuchteten, sie war ganz von Liebe erfüllt. In ihrem Haar steckte der Elfenbeinkamm, wunderschön gearbeitet. Carla merkte, daß dieses Geschenk sie nicht mehr bitter machte, und sie war erleichtert. Amparo strahlte. Oder war sie es, Carla, die die Welt mit neuen Augen sah und nun das Leuchten in Dingen bemerkte, für die sie vorher blind gewesen war? Wieder schnürten ihr die Gefühle beinahe den Hals zu. Wortlos umarmte Amparo sie, und Carla klammerte sich an das Mädchen und fühlte sich selbst wie ein Kind, um so mehr, als sie die Stärke in Amparos Armen spürte, eine Stärke, von der sie nichts gewußt hatte, weil sie sich nie angelehnt hatte. Carlas Welt stand Kopf. Trotzdem fühlte sie sich plötzlich frei. Amparo strich ihr übers Haar.
    »Bist du traurig?« fragte Amparo.
    »Ja.« Carla hob den Kopf. »Nein. Ja, aber es ist eine gute Traurigkeit.«
    »Traurigkeit ist nie schlecht«, erwiderte Amparo. »Traurigkeit ist nur die Kehrseite des Glücklichseins.«
    Carla lächelte. »Ich bin auch glücklich. Besonders freue ich mich, dich zu sehen. Ich habe dich vermißt.«
    Amparo sagte: »Ich möchte, daß du meine Freunde kennenlernst.«
    Amparo hatte ihr nie zuvor Freunde vorgestellt, aber auch sie hatte sich in den letzten Tagen geändert. Sie war nicht mehr auf den Umkreis von Carlas Leben beschränkt. Sie kam und ging wie ein Vogel, den man aus seinem Käfig freigelassen hatte. Sie war diesen Menschen näher, als Carla es je sein

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