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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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Nun, da er allein war, erschien sie ihm kleiner als je zuvor. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie ihm Deckung schenken konnte, schwand zusehends. Er beobachtete Gullu, der sich rasch über das offene Terrain bewegte. Einem Krebs ähnlicher als einer Schlange, huschte er auf Händen und Zehenspitzen hier- und dorthin, stockte unerwartet in seiner Bewegung, um sich flach auf den Bauch zu legen und dann genauso plötzlich wieder weiterzuhuschen. Selbst wenn ihn jemand ausgemacht hätte, hätte man ihn für ein Tier und nicht für einen Menschen gehalten.
    Tannhäuser wandte den Blick wieder der Wolke zu. Sie schien sich kaum bewegt zu haben. Ja, je mehr er sie anstarrte, desto unbeweglicher wurde sie. Als er wieder vor sich auf das Terrain blickte, war Gullu Cakie verschwunden.
    Nun war er völlig auf sich gestellt, nur noch mit seinem Radschloßgewehr und seinem Dolch bewaffnet. Seine Pulverflasche und der Beutel mit den Kugeln befanden sich in den Satteltaschen auf Gullus Rücken. Abwartend beobachtete er nur noch die Wolke.
    Plötzlich schien sie sich mit einiger Geschwindigkeit auf den Mond zuzubewegen. Tannhäuser kauerte sich hin, packte sein Gewehr und beobachtete, wie die Wolke den Skorpion streifte. Sie würde wahrhaftig den Mond verdecken, wenn auch nur für sehr kurze Zeit. Er überlegte, ob er bis zum Tor kriechen sollte, entschied sich aber dagegen. Zehn Atemzüge ohne Deckung waren besser als hundert auf dem Bauch liegend mit dem Hintern in der Luft. Die Wolke hatte den weißen Mond erreicht. Dunkelheitsenkte sich über das Niemandsland. Tannhäuser plagte sich auf und rannte los.
    Im Dienste von Suleiman Schah war er wohl schon fünfzehntausend Meilen gerannt – Janitscharen verbrachten ihr ganzes Leben im Laufschritt – und hatte die Technik nicht verlernt. Tief und gleichmäßig atmen, Ellbogen anlegen, den Oberkörper von der Taille ab nach vorne neigen. Mit einem Schlag war alle Müdigkeit verflogen. Vor ihm lag tintenschwarz das Wasser der Bucht, zu seiner Rechten lauerten undurchdringliche Schatten und die türkischen Linien. Das Musketenfeuer setzte ein, als er siebzig Fuß weit im offenen Gelände war. Er verlangsamte seinen Lauf nicht, schlug aber ein paar Haken. Hinter einer der Explosionen sah er ein Kurzschwert aufblinken, für kurze Zeit auch eine Silhouette, die über den Strand rannte, um ihm den Weg abzuschneiden. Tannhäuser zwang sich, noch schneller zu laufen. Ein Streifen silbriges Licht fiel genau auf ihn, als die Wolke am Mond vorbeigezogen war.
    Der Gazi war nun deutlich zu sehen. Er würde Tannhäuser kurz vor der Bastion von Kastilien den Weg abschneiden. Wenn das Musketenfeuer Tannhäuser nicht erwischte, dann würde ihn sicherlich das Kurzschwert niederstrecken. Tannhäuser hatte sein Gewehr nach links über den Körper gelegt, so daß er es im Laufen nicht erreichen konnte. Er konnte stehenbleiben und schießen, aber dann würde er den türkischen Scharfschützen in den Gräben einen Vorteil verschaffen. Wieder zuckte das Mündungsfeuer einer Muskete auf. Tannhäuser spürte, wie eine Kugel an ihm vorüberpfiff. Dann stand der Gazi vor ihm, die Arme wie ein Diskuswerfer ausgestreckt, hatte mit der Klinge schon ausgeholt.
    Kurz bevor der Moslem ihn erreichte, drehte Tannhäuser sich um und riß dabei das Gewehr mit sich. Die Klinge des Gazi rauschte auf ihn zu, als er mit einer sechs Zoll langen Flamme eine Kugel in die Brust seines Gegners abfeuerte. Zumindest hatte Tannhäuser das geglaubt. Im nächsten Augenblick wurde der Kopf des Kriegers zurückgeschleudert, und er stürzte zu Boden.
    Tannhäuser lief mit gesenktem Haupt die letzten hundert Fußbis zum Kalkara-Tor. Als er um die Mauer des Deckungswalles rannte, peitschten die Kugeln der Musketen um ihn und rissen winzige Löcher in das Mauerwerk. Er gelangte durch ein kleines Tor im Haupttor in die Ausfallpforte. Die Öffnung war kaum breiter als seine Schultern. Drinnen flackerte eine Fackel. Das erste, was Tannhäuser erblickte, als er sich durch das Tor stürzte, war Bors, der dastand und Pulver in den rauchenden Lauf einer schwarzsilbernen Muskete schüttete.
    Bors schaute auf. »Was sollte denn die Pirouette?« erkundigte er sich. »Ich hatte den Teufelskerl schon im Visier, seit er aus seinem Graben gekrochen war.«
    Tannhäuser holte tief Luft. »Und warum hast du ihn dann nicht schon früher erschossen?«
    »Na ja«, meinte Bors. »Dann wärst du wahrscheinlich langsamer gelaufen, und es wäre noch gefährlicher

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