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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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leidenschaftlichen Umarmung aus und …«
    Er hielt inne, denn das Mädchen schien völlig verzaubert und schaute ihn mit so schmerzlicher Verzückung an, daß er sich fürchtete, ihr das Ende der Geschichte zu erzählen.
    »Bitte«, drängte sie ihn, »fahrt fort.«
    »Die Nachtigall drückte die Rose an die Brust, aber mit so wilder Leidenschaft, daß die Dornen ihr Herz durchbohrten und sie starb, während ihre Flügel noch um die Blüte gebreitet waren.«
    Amparo schlug entsetzt die Hände vor den Mund, und sie trat einen Schritt zurück, als wäre ihr eigenes Herz durchbohrt worden. Tannhäuser deutete auf die roten Blüten.
    »Das Blut der Nachtigall färbte die weißen Blütenblätter. Und deswegen blühen seither bestimmte Rosen rot!«
    Amparo dachte eine Weile darüber nach. Mit großem Ernst fragte sie dann: »Ist das wahr?«
    »Es ist eine Geschichte«, antwortete Tannhäuser. »Die Araber haben noch mehr Geschichten über Rosen, denn sie schätzen diese Blumen sehr. Die Wahrheit einer Geschichte liegt jedoch in dem Geschenk, das der Erzähler seinen Zuhörern macht.«
    Amparo schaute auf die blutroten Blüten ringsum.
    »Ich glaube, es ist wahr«, meinte sie, »wenn auch sehr traurig.«
    »Die Nachtigall war sicherlich glücklich«, erwiderte Tannhäuser, der sie nicht betrüben wollte. »Sie hat für ihre Brüder und Schwestern die Macht des Gesangs gewonnen, und nun singen sie für uns.«
    »Und die Nachtigall hat die Liebe erfahren«, fügte Amparo hinzu.
    Tannhäuser nickte. Diese wichtige Beobachtung war ihm bisher entgangen.
    »Das ist ein besserer Handel, als die meisten von uns ihn im Tod machen«, sagte er.
    Zum erstenmal, seit sie sich begegnet waren, hob sie ihre Augen zu ihm. Sie schaute ihn an, als habe sie sich völlig vor ihm entblößt.
    »Ich werde die Liebe nie erfahren«, sagte sie.
    Tannhäuser hätte beinahe geblinzelt, hielt aber ihrem Blick stand.
    »Das glauben viele Menschen«, meinte er. Tatsächlich war er auch davon überzeugt, sagte es ihr aber nicht. »Manche fürchten sich vor dem Wahn und dem Aufruhr, den die Liebe mit sich bringt. Manche denken, sie seien ihrer Herrlichkeit nicht würdig. Die meisten irren sich darin.«
    »Nein, ich kann nicht lieben, so wie der Vogel nicht singen konnte.«
    »Auch der Vogel hat sein Lied gefunden.«
    »Und ich wäre ein Vogel, wenn ich nur könnte, aber ich kann nicht.«
    Tannhäuser konnte nicht leugnen, daß er sich seltsam zu diesem Mädchen hingezogen fühlte.
    »Ihr seid der Mann auf dem goldenen Pferd«, sagte sie.
    Nun, da sie den tückischen Sumpf der französischen Sprache verlassen hatten, verstand er diesen Satz, den sie auch schon in der Taverne mit so großer Erregung gesprochen hatte. Ein goldenes Pferd. Buraq.
    Er zuckte die Schultern. »Ja.«
    Amparo wandte sich um und ging auf das Gästehaus zu. Tannhäuser folgte ihr. Er fühlte sich ein wenig wie ein großer, ungelenker Hund, der hinter einem eigensinnigen Kind hertrabt. Im Gehen fiel ihm auf, wie katzengleich sie ihre Hüften schwenkte, wie herrlich das Leinen sich um ihre Schenkel schmiegte. Der Schatten der Villa fiel auf eine Holzbank, auf der Kissen mit Blumenmustern lagen und von der man einen wunderbaren Blick auf Garten und Meer hatte. Mit einer Handbewegung lud Amparo ihn ein, sich dort hinzusetzen.
    »Wartet hier«, sagte sie.
    Amparo ging durch eine Flügeltür mit Glasscheiben und ließ sie hinter sich offenstehen. Tannhäuser konnte nur ein paar Fuß weit in das Gebäude hineinschauen. Die Decke schien mit Bildern antiker Mythen verziert zu sein, die bei den Franken so beliebt waren. Das hintere Ende des Zimmers lag im Dunkeln, und davor tanzten, als hätte Amparo in ihrem Kielwasser ihre elfenhafte Aura hinterlassen, goldene Stäubchen in der Luft.
    Tannhäuser ließ sich auf der Bank nieder und freute sich daran, wie bequem sie war. In der Ferne lag das Meer wie ein Spiegel in Weiß und Gold, der der Sonne entgegengestreckt wurde. Jenseits der Meerenge zwischen Scylla und Charybdis flirrten die Berge von Kalabrien in der Nachmittagshitze. Die Luft war von einem Duft erfüllt, wie er ihn seit Monaten nicht gerochen hatte, und die Rosen, die Berge und das Wasser trugen ihn fort in einen abgeschiedenen Garten in Trapezunt, in den Palast, in dem Suleiman Schah geboren worden war und wo Tannhäuser geschworen hatte, den Erstgeborenen des Kaisers zu beschützen.
    Das Vergnügen wurde nur von dem Wissen um seinen eigenen Geruch getrübt, der ihm bis dahin nicht

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