Das Sakrament
Brust verspürte. Er trat einen Schritt zurück.
»Und jetzt muß ich gehen. Vor der Mitternachtsflut muß ich noch zwei Männer töten.«
D IENSTAG , 15. M AI 1565
Auf der Straße nach Syrakus
Das Innere der Kutsche war finster. Das Quietschen der Federung und das Knarren der Räder waren die einzigen Geräusche, die Carla wahrnehmen konnte. Daß ihr der Priester gegenübersaß, erkannte sie nur an seinem Geruch nach Schweiß, Zwiebelnund Urin, der ihr jedesmal den Magen umdrehte, wenn er in ihre Richtung geweht wurde. Sie hielt das Gesicht so nah wie möglich an den Vorhang, der vor dem Fenster hing, und war froh über den geringsten Lufthauch. Als sie kurz den Vorhang aufgezogen hatte, hatte ihn der Priester sofort wortlos wieder zugezogen.
Den Namen des Priesters hatte sie nicht erfahren, genausowenig, auf wessen Befehl er handelte. Er hatte ihr lediglich mitgeteilt, sie solle sich auf ein Leben der Besinnung zurückziehen, und zwar im Kloster zum Heiligen Grab in Santa Croce. Außer einem Umhang, mit dem sie ihr rotes Seidenkleid bedeckte, durfte sie keine Besitztümer mitnehmen. Carla hatte keine Einwendungen gemacht, da sie wußte, daß sie dort nichts benötigen würde. Sizilien lag am Ende der Welt. Jenseits seiner weltoffenen Häfen – in den Bergen, die wesentlich weiter abseits jeglicher Zivilisation lagen als irgendein Bergland in der ödesten Weite Spaniens – hatte sich seit einem Jahrtausend nichts geändert. Eine Jahreszeit, ein Jahr, ein Jahrzehnt, ein Leben, eine Ära – in dieser Welt hatte all das keinerlei Bedeutung. Diese Welt hatte eine Zivilisation nach der anderen kommen und gehen sehen, hier fielen die Reiche der Mächtigen wie welke Blätter. Diese Welt wurde von Demütigungen und blindem Gehorsam bestimmt. In dieser Wildnis konnte Carla spurlos verschwinden, wie unliebsame Frauen schon früher verschwunden waren: nachdem man ihr den Kopf geschoren, ihr das unanständige Kleid vom Leib gerissen hatte, sie zu ewigem Schweigen verbannt und an unerbittliche Statuen gefesselt hatte, die unter dem Deckmantel eines Gottes daherkamen. Ihr wurde klar, daß sie eigentlich schon wie vom Erdboden verschwunden war.
Ihre Entführung war erstaunlich unspektakulär über die Bühne gegangen. Unangemeldet tauchten ein Bewaffneter und ein Priester bei ihr auf. Von Bertholdo keine Spur. Von Amparo zum Glück auch nicht. Nichts als zwei Fremde, der eine – absurd, weil man sie ja wohl nicht erschießen wollte? – mit einer rauchenden Muskete bewaffnet. Nein, sie hatte kein Gesetz überschritten. Nein, man verhaftete sie nicht. Nein, sie durfte nicht erfahren,warum ihr diese Behandlung widerfuhr, auch nicht, wer dies angeordnet hatte. Der Priester wußte nichts über sie. Er wußte nur, was man ihm befohlen hatte. Ja, man würde ihr schließlich alle Fragen beantworten, zweifellos, aber in ihrem eigenen Interesse sollte sie nun besser zu dem Priester in die Kutsche steigen und still sein. Der Priester schien schon ihr Kleid für einen ausreichenden Grund zu halten, sie zu verhaften und einzusperren. In den Augen des Büttels hatte sie die stumme Bitte gelesen, ihn nicht dazu zu zwingen, sie zu unsanft anzufassen.
Es hätte niemandem genutzt, wenn Carla sich gewehrt hätte und man sie schreiend in die Kutsche hätte zerren müssen. Damit hätte sie außer der Freiheit auch noch ihre Würde verloren, und Amparo wäre möglicherweise in diese Katastrophe mit hineingezogen worden. Das Gefühl der Hilflosigkeit weckte in Carla wieder ihre ältesten Alpträume. Während sie all ihre Kraft zusammennahm, um den Männern mit hoch erhobenem Kopf entgegenzutreten, war sie auf einmal wieder fünfzehn Jahre alt und schritt zu der Kutsche, die sie für immer von ihrem Elternhaus fortbringen würde. Diesmal rebellierte jedoch eine Stimme in ihrem Kopf und drängte sie, dagegen anzukämpfen. Aber wie? Und wozu? Was war mit Amparo? Im Augenblick von Carlas Verhaftung saß Amparo da und drehte ihr Zauberglas. Die Kleidung des Priesters verriet nichts über seinen Stand oder einen Orden, dem er angehörte, doch ließ allein die Tatsache, daß man ihn mit einer solch finsteren Tat beauftragt hatte, auf die Inquisition schließen. Tannhäuser hatte sie gewarnt, daß Amparos Gabe gefährlich sein könnte. Der Gedanke, man könnte das Mädchen foltern oder verbrennen, erfüllte Carla mit furchtbarem Schrecken. Amparo war besser geschützt, wenn niemand von ihr wußte, selbst wenn das bedeutete, daß Carla sie
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