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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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– das heilige Rad der vierten Agha Boluks . Die Janitscharen waren das einzige Vaterland, das Tannhäuser je gekannt hatte. Seine Gefühle für ihren heimischen Herd, seine Loyalität, seine Liebe waren so tief gewesen wie La Valettes Gefühle für den Heiligen Orden. Als Tannhäuser sie vor so vielen Jahren für immer verlassen hatte, hatte er damit auch einen Teil seiner Seele aufgegeben. Er hätte jedoch seine Seele völlig verloren, wenn er es nicht getan hätte. Obwohl der Klang ihrer Flöten und Trommeln ihm noch immer das Herz anrührte, mußte er nun seinen früheren Brüdern auf dem Schlachtfeld entgegentreten. Er wartete mit klopfendem Herzen auf den Schrei, den er nie gehört, sondern immer nur selbst angestimmt hatte.
    Die mächtigen Löwen des Islam würden schon bald brüllen.
    Als all die großen Karrees, Berittene und Infanteristen, endlich ihre Stellung in der Schlachtordnung bezogen hatten, hörten die gespenstischen Hornklänge und die aufreizenden Melodien der Mehterhane plötzlich auf, und die großen wirbelnden Bewegungen kamen zu einem abrupten Stillstand. Eine ungeheure und unwirkliche Stille senkte sich über das Schlachtfeld, ein Schweigen und eine Reglosigkeit, wie sie im ersten Morgengrauen der Schöpfung geherrscht haben mochte. Inmitten dieses beinahe benommenen Schweigens betrachteten einander Zehntausende von Seelen, Christen und Moslems, über den weiten Abstand hinweg, auf dem sie ihr Leben lassen würden, und ihrer aller Herzschlag war der einzige Laut, der durch die Stille zu beiden Seiten rauschte. Ein mit Steinhaufen übersäter, lehmiger Landstreifen lag zwischen ihnen. Um diesen Lehm und diese Steine würden sie ihren Kampf um die Ewigkeit austragen.
    In jenem Augenblick verstand Tannhäuser, daß diese Schlacht nur ein weiterer Meilenstein an einem mit Gräbern übersäten Weg war, ganz gleich, was jeder der Männer im Feld erreichen würde. An einem Weg, der sich über sieben Jahrhunderte zurück erstreckte, als keiner der Männer hier geboren war, und der seine blutigen Spuren auch über unzählige Jahrhunderte in die Zukunft erstrecken würde.
    Bors, dem man auch einen Posten an diesem Ehrenplatz verschafft hatte, wandte sich vom Schauspiel der angetretenen Türken ab, holte tief Luft, als atme er einen köstlichen Duft ein, und schaute Tannhäuser an.
    »Kannst du es riechen?« flüsterte Bors.
    Tannhäuser sah, wie sich die grauen Augen des Engländers zu einem Lächeln verzogen.
    »Ruhm und Ehre«, sagte Bors.
    Tannhäuser antwortete nicht. Ruhm und Ehre waren gewaltiger als Opium. Er fürchtete ihre Wirkung.
    Bors schaute die Festungsmauern entlang, dann auf das ungeheure, schimmernde Heer auf den Anhöhen. »Kann es möglich sein?« fragte er voller Ehrfurcht. »Daß die meisten dieser Männer sterben sollen?«
    Auch Tannhäuser blickte zu ihnen hin. Wieder gab er keine Antwort; es war auch nicht nötig.
    Mit dieser juwelenbesetzten Heerschau hatte der Großtürke den ersten Schlag gegen die Moral der Verteidiger geführt. Nun schlug der Orden zurück. La Valette machte eine Handbewegung zu Andreas. Der Page verneigte sich und ging auf die Bastei zu, wo er einem Ordensritter die Anordnung des Großmeisters übermittelte. Der Ritter hob und senkte ein Schwert, das in der Sonne blitzte.
    Tannhäuser wandte sich um.
    Unter dem Galgen oberhalb des Provence-Tors stand die nackte, zitternde Gestalt des alten Puppenspielers, dem Tannhäuser Schritt für Schritt von der Majistral-Straße bis hierher gefolgt war. Ein Feldwebel trat vor und versetzte dem Alten mit dem Schaft seines Speeres einen Stoß zwischen die Schulterblätter. Dem Greis wurde so sein letzter Rest von Würde geraubt. Seine Beine gaben unter ihm nach wie welke Äste. Mit einem Todesschrei, der durch den Knoten des Taus gedämpft wurde, das man ihm in den Mund gerammt hatte, fiel der alte Mann in den leeren Raum. Sein Fall schien endlos. Dann schnappte das Seil laut wie ein Kanonenschuß über der Ebene, und beide Heere beobachteten den Karagiozi , der sechzig Fuß über dem Boden des Grabens zuckte und tanzte wie eine seiner eigenen Marionetten.
    La Valette hatte angeordnet, daß an jedem Tag der Belagerung ein Moslem hingerichtet werden sollte. Tannhäuser hielt dies für einen glänzenden Schachzug, nicht nur, weil er in seiner Gräßlichkeit die perfekte Antwort auf die Pracht der Türken war, sondern weil er beiden Heeren klarmachte, daß am Ende dieses Konfliktes nur die völlige Auslöschung der einen

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