Das Sakrament
daß diese Umwälzung bereits begonnen hatte, daß sie außerhalb jeder Rechtsprechung und jeder Kontrolle geraten war und daß nichts im Himmel oder auf Erden sie noch hätte aufhalten können.
Plötzlich störte etwas seine Gedanken. Zwei bewaffnete Feldwebel zerrten eine Gestalt in Handschellen den Wehrgang entlang. Der Gefangene bewegte sich mit einem seltsam hüpfenden Gang. Als Orlandu zwischen den Schäften der Piken hindurchspähte, sah er, daß es Omar, der alte Karagiozi , war. Man hatte ihm den Knoten eines Schiffstaus als Knebel in den Mund gerammt. Dann wurde Omar über den Wehrgang zur Bastion von Italien geschleift, und Orlandu verlor ihn aus den Augen. Wenig später bemerkte er, daß man auf dem äußersten Vorsprung der Mauer über dem Provence-Tor einen Galgen aufgestellt hatte. Tintenschwarz baumelte eine Schlinge vor dem türkisblauen Himmel.
Unter diesem Galgen tauchte Omar wieder auf. Die Männer rissen ihm sein zerlumptes Gewand herunter. Seine Knochen zeichneten sich scharf unter seiner faltigen Haut ab. Orlandu sah, daß sie den Karagiozi zum Mauerrand stießen und ihm die Schlinge um den Hals legten. Omar war doch viel zu alt und zu verrückt, um ein Spion zu sein. Orlandu schaute auf die heidnischen Heere,die auf den Hügeln ringsum Stellung bezogen hatten. Aller Augen schienen auf den Alten gerichtet zu sein, der gebeugt und zitternd unter dem Galgen stand. Orlandu begriff plötzlich.
Der Orden hängte Omar auf, weil er ein Moslem war.
Und es stimmte ja, dachte Orlandu.
Der alte Karagiozi war ein Moslem.
Irgendwie wurde Orlandu klar, daß seine Traumwelt im Begriff war unterzugehen.
Tannhäuser war die Ehre zuteil geworden, für einen Posten auf der Bastion der Provence eingeteilt zu sein. La Valette selbst befand sich nur wenige Schritte entfernt auf dem Wehrgang. Bei ihm standen sein junger Page Andreas und der große Hauptmann Le Mas sowie eine ganze Gruppe anderer, ernst blickender Edelmänner. Noch nie hatte Tannhäuser eine Gesellschaft erlebt, die sich so viel Gedanken um Rang und Abstammung machte. Im Reich der Osmanen konnte ein Sklave Großwesir werden, wenn seine Eigenschaften ihn dazu geeignet machten. Admiral Piali, dessen Schiffe Malta eingekreist hatten, war ein serbisches Findelkind aus Belgrad. Obwohl inzwischen die große Mehrheit der fränkischen Adeligen den Ritterstand als kaum mehr als eine Maskerade sah, war doch die Elite des Ordens eine eingeschworene Bruderschaft von Mordgesellen, wie er kaum je eine gekannt hatte. Sie waren wie Barbaren aus dem 12. Jahrhundert, aber mit modernen Waffen, und zweifellos brannten sie nur so auf den Kampf.
Während sich das Heer, dem Tannhäuser ein Drittel seines Lebens gewidmet hatte, über die Anhöhen verteilte, wirbelten ihm Erinnerungen durch den Kopf. Nie hatten die Soldaten, die für den Schatten Gottes auf Erden kämpften, prächtiger ausgesehen. Kein anderes Wort konnte sie beschreiben. Sie waren auch so furchterregend wie nie. Allein die reibungslose Präzision, mit der sich vierzigtausend Kämpfer auf den Anhöhen aufstellten, konnte jedem erwachsenen Mann den Magen umdrehen. Auch ihre Waffen waren von hervorragender Qualität, genau wie die Kampfkraft der Männer. All dies auf einen sonnenverbrannten Felsenbeinahe am anderen Ende der Welt verpflanzt zu haben – das allein war ein Wunder an purer, strotzender Macht.
Tannhäuser sah die Artillerie der Topchu , wie sie ihre riesigen Feldschlangen an Ort und Stelle zogen. Er sah die Spahi und Iayalaren , die gelben Banner der Sari Bayrak und die purpurroten Fahnen der Kirmizi Bayrak und zwischen diesen beiden Reitereinheiten den seidenen Pavillon des Mustafa Pascha, der sich schimmernd wie eine goldene Kugel vor dem zerklüfteten Horizont erhob. Über dem Pavillon war der Sanjak i-Sherif , das schwarze Kriegsbanner des Propheten mit der Inschrift des Shahada gehißt. Es gibt keinen Gott außer Allah, Mohammed ist sein Gesandter. Mustafas Ahne hatte das gleiche Banner selbst für den Propheten in den Kampf getragen. Auch diese Tatsache erfüllte Tannhäuser mit Achtung, denn der Geist des Propheten schwebte über dieser Anhöhe, und Mustafa und seine Heerscharen wußten das, denn sie spürten alle die geheiligten Hände auf der Schulter.
Tannhäuser sah Banner von Regimentern, die er einmal für ihre Taten geschätzt und neben denen er in der öden Wildnis um den Van-See gekämpft hatte. Unter den Ortas der Janitscharen nahm er sein eigenes Banner jedoch nicht wahr
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