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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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Gewissen zu erfüllen, konnte eine Tugend sein, die eine winzige Überlebensgarantie enthielt ...
    Der kategorische Imperativ!
    Der Gedanke half ihm weiter. Zu oft hatte er in den vergangenen Tagen und Nächten versucht, die Katastrophe und ihre Ursachen innerlich zu verarbeiten. Das war zuviel auf einmal. Er konnte sich den Rest seines Lebens mit philosophischen Fragen dieser Art beschäftigen. Dafür war immer noch Zeit - sofern sein Weiterleben nicht mehr von Zufällen abhing und seine Existenz einigermaßen gesichert war.
    An diesem Punkt seiner Überlegungen fand er wieder zu sich selbst zurück. Er mußte Schritt für Schritt vorgehen, wenn er ähnliche Risiken wie mit dem Beichtstuhl in den Strudeln vermeiden wollte.
    Also beschloß er, zunächst nur noch daran zu denken, wie er das Trauma und den Schock der Ereignisse loswerden konnte. Er mußte leben und Gefahren so gut es ging vermeiden. Der beste Platz dafür war das Verlagshaus. Da er nicht wußte, an welcher Stelle der Stadt er sich befand, bestand seine erste Aufgabe darin, möglichst schnell zum Verlag zurückzukehren. Erst dann konnte er an die Bewältigung weiterer Probleme gehen!
    Er tastete sich an der feuchten Mauer entlang. Sorgsam bemüht, nicht auf den glatten Steinen abzurutschen, näherte er sich einer Lichtquelle. Erst jetzt fiel ihm auf, daß es in der Siele nicht wirklich dunkel war. Ein diffuses Licht kam aus schmalen Streifen an der tunnelartig gewölbten Decke.
    Die rauschenden Wasser im Entwässerungssystem unter der toten Stadt vereinten sich mit den Fluten aus einem spitzwinkelig dazustoßenden Seitenkanal. Dort, wo beide Kanalröhren ineinander übergingen, sah er eine dreieckige Plattform mit einer Wendeltreppe, die halb in einer senkrechten Mauernische verborgen war.
    Goetz zwang sich, nicht unvorsichtig auf die Treppe zuzulaufen. Der schmale Steg am Rand der Kanalbetten war zu unsicher für schnelle Bewegungen ...
    Als er die Treppe erreicht hatte, mußte er sich einen Augenblick lang ausruhen, dann stieg er Stufe für Stufe höher. Er dachte plötzlich wieder an die seltsame Aufforderung der MUSE , innerhalb der Kathedrale Futterstellen anzulegen. Dabei fielen ihm die kleinen Lebewesen wieder ein, die er im Turm flüchtig gesehen hatte. Er blieb stehen. Warum hatte er die ganze Zeit nicht mehr an sie gedacht? Hatte sein Unterbewußtsein die Begegnung verdrängt? Oder war sein gesamter Aufenthalt in der Kathedrale nur ein Traum gewesen?
    Er schüttelte den Kopf. Dann wäre er nicht hier! Er biß die Zähne zusammen und ging weiter. Die Wendeltreppe endete in einer Kuppel, von deren Wänden automatisch eine Desinfektionsflüssigkeit über ihn sprühte. Er prustete und floh in den nächsten Raum. Die Wände bestanden aus hellblauen Kacheln, die noch aus dem vorigen Jahrhundert stammen mußten. An zwei Seiten des quadratischen, etwa zehn mal zehn Meter großen und vier Meter hohen Raumes hingen Pläne unter schützenden, leicht getönten Glasplatten. Als er nähertrat, erkannte er, daß sie das gesamte Kanalisationssystem der Innenstadt zeigten. Die Bedeutung des farbigen Liniennetzes blieb ihm verborgen. Erst die Diagramme auf einem kleineren Plan klärten ihn über durchschnittliche und maximale Transportleistungen des Kanalsystems auf. Er hatte nie geahnt, wie kompliziert die Abwässerentsorgung einer Stadt war ...
    Vor einer anderen Wand stand ein fast acht Meter langes Kontrollpult mit Uhren, Bildschirmen, Hunderten von Sensortasten und farbigen Linien, die wie das Netzwerk eines Güterbahnhofs wirkten.
    Er ging langsam an dem schrägen, pultartigen Kontrollpult entlang. Obwohl er kaum etwas von dem verstand, was auf den Anzeigen wirr durcheinander leuchtete und blinkte, wurde ihm klar, daß Teile des Stadtversorgungssystems noch funktionieren mußten. Allerdings sah das hektische Durcheinander nicht sehr vertrauenerweckend aus. Er hatte viel eher den Eindruck, als würden sich ständig Schleusentore in den Eingeweiden der Stadt unkoordiniert öffnen und schließen.
    Lichtkaskaden rasten von einem Pultende zum anderen. Sie bildeten bunte Muster, flogen zuckend über die Bildschirme und verschwanden im Wirrwarr der denkenden Module von Fließkristallanzeigen.
    Hier starb der Rest der Stadt in einer Intensivstation.
    Obwohl das Chaos offensichtlich war, hörte Goetz nicht den geringsten Laut. Er fröstelte plötzlich. Seine nassen Sachen hatten den Geruch von Desinfektionsmitteln angenommen. Zusammen mit den Kachelwänden und den

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