Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
erlebt hatte, wie die Lichtpunkte am Nachthimmel plötzlich zu Welteninseln im All wurden und eine Tiefe hinter der anderen bildeten, der wußte nichts von sich und seiner Existenz!
Goetz mußte plötzlich lachen. Er befand sich noch im Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit. Trotzdem fand er es komisch, daß die meisten Menschen immer nur wie geprügelte Hunde mit dem Kopf nach unten durch ihr Leben gegangen waren. Sie hatten einfach nicht gewagt, nach oben zu sehen. Bei Tag blendete die Sonne und in der Nacht war da das Raunen der Sterne, von denen alle wußten, und die doch niemand wahrhaben wollte.
Die Sterne sagten die Wahrheit! Vielleicht sogar so, wie es die Astrologen zu allen Zeiten behauptet hatten ...
Goetz von Coburg spürte ein Stechen in seinem Leib. Er krümmte sich zusammen. Seine Finger glitten über schmierige Steinplatten. Die Träume vom Fliegen und vom angenehmen Gleiten in einer friedlichen Welt lösten sich auf. Er versuchte sie festzuhalten. So lange wie möglich wehrte er sich gegen den Gestank der Realität.
Erst, als es nicht mehr anders ging, übergab er sich erneut. Er zog sich an rostigen Eisenstreben höher. Mühsam öffnete er ein altmodisches Eisenschott mit bröckelnden Gummimuffen an den Rändern. Er quälte sich über den Rand eines Wartungsschachtes.
Ein paar Minuten lang blieb er erschöpft auf schmutzigen, gegossenen Steinplatten liegen.
Zwei oder drei Jahrzehnte früher wären Siele wie dieser noch mit Petroplast ausgekleidet gewesen. Erst als das Rohöl unbezahlbar geworden war, hatte sich auch die Plastik-Zivilisation verändert. Trotzdem waren bis zur letzten Stunde noch Unmengen von Energie für sinnlose Auswüchse des Überflußdenkens verschwendet worden. Das System, das von Anfang an auf die Anbetung des Mehrwerts, der Leistungssteigerung, der Zuwachsraten und der schrankenlosen Ausbeutung von Menschen und Rohstofflagern ausgerichtet war, hatte sich auch dann nicht mehr ändern können, als das Prinzip versagte.
Gegen den Hunger in einem großen Teil der Welt war weniger getan worden als für die Züchtung geschmackloser Treibhaustomaten. Und jeder Angehörige der Dritten Welt beanspruchte die gleichen unnötigen Privilegien wie Menschen in den Industriegesellschaften. Sie wollten nachholen, aufholen, überholen, und alles ohne Rücksicht auf gewachsene Strukturen. So gesehen war der Untergang auf vielfache Weise vorprogrammiert. Und alle hatten es gewußt ...
Alle?
Goetz von Coburg lehnte sich mutlos gegen eine feuchte schimmelige Wand. Er kannte mittlerweile sein schwierigstes Problem. Es war nicht das Wasser, der Hunger oder die Strahlung, die noch immer in seinen Körperzellen fraß. Selbst die Einsamkeit und das Bewußtsein, ganz allein zu sein, hatten schon andere vor ihm ertragen!
Die unberechenbarste und gefährlichste Bedrohung war er selbst. Er hatte niemanden, mit dem er sich aussprechen konnte. Deshalb stauten sich immer wieder lähmende Gedanken und Empfindungen in ihm.
Er mußte etwas gegen dieses Gift in seinem Verhalten tun!
Es war so einfach, nichts mehr zu denken, nichts mehr zu wollen! Er konnte sich sofort fallenlassen und aufgeben. Das war die eine, die schwache Seite seines Charakters. Weniger sensible Männer hätten vielleicht dreimal gotteslästerlich geflucht und sich betrunken, ehe sie durch ihre Urinstinkte weitermachten, ohne groß nachzudenken, was in einem Monat oder einem Jahr sein könnte.
Es hatte diese praktischen, anpassungsfähigen Burschen zu allen Zeiten gegeben. Man konnte sie irgendwohin stellen, und sie fanden sich zurecht, schlugen sich durch und lebten weiter. Das hatte nichts mit Intelligenz oder Wissen zu tun. Ob Einsiedler und Eremiten als Fallensteller lebten oder sich freiwillig als Mönche von der Welt abkapseln konnten, war niemals eine Frage des Verstandes gewesen. Es mußte etwas anderes sein: eine Art seelischer Bizeps, der Glaube an die eigene Kraft oder an einen Gott ...
Goetz hatte nie zu jenen gehört, die diese Stärke besaßen. Er trug den Namen seiner Vorfahren, die einmal einen wichtigen Platz in der menschlichen Gesellschaft ausgefüllt hatten. Als Redakteur im Verlag von J. Samuel Bruhns hatte er keine wesentliche Lebensaufgabe gehabt. Er war ein stiller Mann gewesen, dem es mehr darauf angekommen war, die Regeln einzuhalten, und das zu tun, was von ihm gefordert wurde.
Vielleicht war das jetzt seine Chance!
Die jahrhundertelange Erziehung, an jedem Platz die Pflicht nach bestem Wissen und
Weitere Kostenlose Bücher