Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
auch das damit zusammen, daß die Beryllos-Linsen im Dach noch immer so eingestellt waren wie vor der Flucht.
Sie ging unter den bereits erste Früchte tragenden Obstbäumen im Garten von Meister Lamprecht entlang. Nach den Gemüsebeeten kamen Sträucher und Stauden. Die Erdbeeren waren bereits überreif. Agnes pflückte eine Handvoll. Sie genoß den herrlich-frischen Geschmack.
Alle Gärten des Dorfes waren lang und schmal. Bei den Häusern nördlich der Straße führten sie steil nach oben, bei den südlichen nach unten. Da die Sonne in den vergangenen Wochen höher gestiegen war, erhielten die oberen Gärten weniger Licht durch die Beryllos-Linsen im Dach als die unteren. Trotzdem war alles viel weiter.
Agnes ging fast bis zu dem Streifen mit Weinstöcken, die schon nicht mehr zu den Familiengärten gehörten, sondern sich an der gesamten Oberseite der Gärten und Felder auf den Hügel außerhalb des Dorfes entlangzogen.
Am späten Nachmittag hörte sie weit im Westen Stimmen. Sie versuchte, etwas am Abendzeichen zu erkennen. Der Wald auf dem Eichberg versperrte ihr jedoch die Sicht. Dort war auch schon verbotenes Gebiet, das nur von Männern zum Holzschlagen und an besonderen Feiertagen betreten werden durfte. Das gleiche Verbot galt auch für die östlichen Hügel des Sakriversums vor den Aasbergen über der Apsis der Kathedrale.
Agnes hatte plötzlich Angst. Sie war in ihrem ganzen Leben noch nie allein gewesen. Seit sie denken konnte, war immer Guntram oder ein anderes Familienmitglied in der Nähe gewesen. Gewiß - manchmal hatte Guntram mit anderen Jungen des Dorfes am See gespielt. Hin und wieder waren sie auch höher geklettert, als sie es barfuß durften. Agnes kannte die meisten Streiche ihres Bruders, aber sie hatte nie etwas verraten.
Und nun war er ihr Mann. Sie sehnte sich danach, daß er zurückkam.
Mit einem Lächeln um die Mundwinkel dachte sie an die vergangene Nacht zurück. Wie zärtlich er gewesen war, wie verständnisvoll. Warum ließ er sie dann schon am Tag darauf so lange allein?
Agnes ging zum Haus zurück. Sie trat in den Schatten und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Die Stimmen kamen näher. Dann sah sie an der Ostflanke des Rübenbergs eine Gruppe von Männern.
Agnes versteckte sich unwillkürlich hinter einem Busch. Die Männer rannten direkt auf das Dorf zu. Jetzt hatten die ersten bereits den Erbsberg erreicht ...
Agnes wußte nicht, was sie tun sollte. Sie war vor Schreck wie erstarrt. Wie kamen diese Männer ins Sakriversum? Und warum rannten sie?
Bankerts!
»O nein!« stöhnte sie entsetzt. Im gleichen Augenblick hörte sie einen lauten Knall, gefolgt von einem Geräusch, das wie ein heftiges Gewitter wirkte.
Warum war Guntram nicht da? Warum ließ er sie allein?
Agnes ließ die Erdbeeren fallen, und dann tat sie etwas, was sie unter anderen Umständen niemals gewagt hätte: sie stieg noch höher, kletterte über einen niedrigen Zaun und duckte sich unter die Blätter der Weinstöcke. Von ihrem Platz aus konnte sie den Thing-Platz, den Turm von Buch-Heim , den Bach, die Straße und die Wiese bis hinab zum See überblicken.
Es dauerte eine Weile, bis die ersten Bankerts das Dorf erreichten. Die meisten liefen weiter bis zum Bach. Andere drangen in die ersten Häuser ein. Sie kamen schneller wieder heraus, als Agnes erwartet hatte.
Verwundert erkannte sie, wie zwei junge Burschen gefüllte Wassersäcke auf die Straße schleppten. Andere hatten Kessel mit Wasser gefüllt und an Stecken über die Schultern gehängt. Am Bach suchte ein wilder Haufen nach irgendwelchen Behältern. Einige warfen sich so, wie sie waren in die gemauerte Wasserrinne. Als sie prustend wieder hochkamen, verließen die ersten Männer bereits wieder das Dorf.
Der seltsame Spuk war so schnell vorbei, wie er gekommen war. Agnes verstand nicht, was da unten vorging. Nur eines wußte sie:
Die Bankerts hatten das Sakriversum erreicht!
Sie fühlte eine schmerzhafte Trauer in sich. Es würde nie wieder so sein wie in den vergangenen Jahrhunderten! Doch das hatte sie bereits gewußt, als sie nach der letzten Nacht aufgewacht war ...
15. KAPITEL
Es war ein Traum wie der vom Fliegen. Eine tief in ihm verborgene Sehnsucht, Adlern gleich über menschenleeren Tälern zu schweben, dem Zug der Wildgänse in ferne Länder zu folgen oder ganz einfach nur in einer lauen Sommernacht auf einer Wiese zu liegen und über sich nichts anderes zu sehen als Tausende geheimnisvoll funkelnde Sterne.
Wer nie
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