Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Betrug!« schrie in diesem Augenblick eine Stimme aus dem Wald. »Laßt euch nicht täuschen, Leute! Sie wollen doch nur stehlen, was ihr zum Leben braucht!«
Wie zur Bestätigung kam ein kurzer, harter Klampfen-Akkord vom Wald her.
»Lello!« stöhnte Hector überrascht.
»Was ist denn in den Kerl gefahren?« schimpfte Galus böse. Diesmal reagierte Llewellyn Corvay entschlossener als seine Berater.
»Komm heraus, Lello, du Narr! Sag uns, was du im Dorf gesehen hast! Jeder soll wissen, warum wir nicht alle gleichzeitig ins Dorf gehen können!«
»Das Dorf ist verhext!« rief Lello. »Ich war heute nacht dort und habe die bösen Zeichen am Himmel gesehen ...«
Corvay lachte dröhnend. Instinktiv drehte er Lellos Warnung an die Schander zu seinem Vorteil um. Damit konnte er gleichzeitig die noch immer mißtrauischen Bankerts wieder auf seine Seite ziehen.
»Habt ihr gehört?« donnerte er über die Köpfe der Versammelten hinweg. »Der Narr will einen Pakt mit den Teufeln der Schander abgeschlossen haben! Böse Zeichen! Hexen! Magie! Na schön, Lello! Du magst mehr sehen als wir, die keine Narren sind! Wir wollen dieser Sache nachgehen! Kein Schander soll gezwungen werden, schon jetzt mit uns ins Dorf zu ziehen! Wer von den anderen will außerdem noch hierbleiben?«
Er wartete, doch niemand meldete sich.
»Kannst du das sehen, Lello?« Jetzt wurde Corvay noch geschickter: »Du magst ja recht haben! Vielleicht gibt es hier im Sakriversum noch Wunder und geheimnisvolle Dinge, an die niemand rühren darf! Tabus vielleicht! Verborgene und verbotene Stellen! Versteckte Heiligtümer, über denen seit siebenhundert Jahren ein Bannfluch liegt ...«
Das war wieder der alte Corvay. Galus rieb sich vergnügt die Hände. Selbst Hector ließ sich erneut einfangen. Er leckte sich über die Lippen, während seine wäßrigen Augen glänzten.
»Ist es so, Clan-Chefs der Schander ?«
Die Alten standen mit gesenkten Köpfen vor dem Gerüst.
»Nein, nein, wir werden euch nicht zwingen! Nicht einen einzigen von euch!« rief Corvay. »Aber ich bitte wenigstens den Logenmeister und einige der Clan-Chefs, uns zu begleiten, damit wir dieses Muli dort mit Vorräten für euer Volk beladen können!«
Patrick schlug verdutzt auf seine Pauken. Davon hatte ihm Corvay nichts gesagt. Gleichzeitig blinzelte der König zum Waldrand hinüber.
»Wenn ich diesen Narren erwische, hänge ich ihn eigenhändig an den Saiten seiner verdammten Klampfe auf!« zischte er Galus zu. »Um ein Haar hätte er alles verpatzt!«
»So ist er ungewollt zum echten Königsnarren geworden«, sagte Galus grinsend. »Ein Mann, der die Wahrheit sagt - so, wie ein großer König sie benötigt ...«
Wann ziehen wir ins Dorf?« fragte Hector ungeduldig.
»Sofort« antwortete König Corvay. »Ich darf nicht zulassen, daß Zweifel an unserer Entschlossenheit aufkommen«
*
»Laß mich jetzt schlafen, Enkel Wolframs«, sagte der Eremit. »Nimm diesen Beutel Kräuter und gib ihn in den Krug mit Honigmet. Trinkt beide einen Becher. Es schmeckt so ähnlich wie der Wein der Letzten Gnade, doch dieser Met tötet nicht, sondern läßt euch nur vergessen, was in der Nacht zuviel für euch gewesen ist.«
Der alte, fast bis auf die Knochen abgemagerte Mann legte sich zurück. Er war noch kleiner als Nancy und Guntram.
»Eine unglaubliche, phantastische Geschichte«, sagte Nancy erschöpft. Guntram nickte müde. Er nahm die Kräuter aus der Hand von Meister Albrecht und rührte sie mit einem kunstvoll geschnitzten Holzlöffel in den Met-Krug.
Bis lange nach Sonnenaufgang hatte der Eremit ihnen erzählt, wie die ersten gotischen Kathedralen entstanden waren. Als Guntram in der Nacht über die Strickleiter in den Hauptraum des Turms von Buch-Heim geklettert war, hatte er Meister Albrecht auf einem weichen Lager angetroffen, über dem blinkende Röhren und seltsame Drähte angebracht waren.
Auf dem mit gewebten Teppichen bedeckten Boden kauerte ein nacktes Mädchen.
»Bist du Guntram?« hatte sie gefragt. »Ich heiße Nancy McGowan II und wurde in einem nordamerikanischen Labor geklont.«
Guntram hatte nicht verstanden, was sie sagte. Erst später in der Nacht, nachdem sie sich etwas angezogen hatte, war er dahintergekommen, daß sie niemals Eltern oder eine Familie gehabt hatte.
Während Meister Albrecht leise im Schlaf röchelte, sah Guntram das schöne fremde Mädchen nachdenklich an. Sie lächelte vertraulich.
»Ist es nicht seltsam, wie nahe man sich kommt, wenn
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