Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
eine neue Zivilisation aufbauen, bis unsere Kindeskinder wieder die ganze Erde betreten können! Das Sakriversum war bisher nur eine Zuflucht für eine kleine Gruppe von Privilegierten. Wenn aber nur eine Insel in einem Orkan übrigbleibt, gehört sie allen! Und das mit gleichen Rechten!«
Galus, Hector und die anderen Berater Corvays brachen wie vereinbart in lauten Jubel aus. Sie klatschten so begeistert, daß erst die Bankerts und dann auch einige der jüngeren Schander zustimmend nickten. Selbst ältere Urbewohner des Sakriversums wurden unsicher. Sie waren nicht daran gewöhnt, Beschlüsse anzuzweifeln.
Corvay setzte sich in seinen geflochtenen Korbsessel. An seiner Stelle trat Menennery Luck vor. Der Advokat nestelte fahrig einige Papiere aus den Innentaschen seines schmutzigen, zerrissenen Umhangs.
»Im Namen ... im Namen des Königs!« rief er in den Lärm. Er sah sich hilfesuchend um. Ein paar besonders wilde Bankerts verlangten schon wieder nach Wein, Weibern und Gebratenem.
Corvay hob eine Hand. Das Zeichen wirkte. Menennery Luck konnte weitersprechen.
»Im Namen des Königs, der uns durch seine Weisheit und seine Stärke hierher geführt hat«, rief er mit hoher, schrill klingender Stimme. »Wir sind die letzten Menschen dieser Welt! Damit wir nicht die gleichen alten Fehler wiederholen, brauchen wir neue und diesmal realistische Gesetze!«
Er sah sich zu Corvays Beratern um. Sie nickten ihm zu.
»Was war der Fehler?« rief Menennery Luck. »Warum haben sich die Menschen selbst vernichtet, wenn doch alle Gesetze dagegen sprachen? Ich will es euch sagen: Die großen Gesetze, Gebote und Verbote waren immer nur eine Illusion - ein Traum von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Frieden! Das hätte eine ganz andere Menschenart erfordert als die unsere, bei der jeder einzelne ein unverwechselbares Individuum mit einer eigenen Wahrheit ist ...«
Zum erstenmal hoben auch die Clan-Chefs den Kopf. Waren es nicht ähnliche Gründe gewesen, die zu ihrer Isolation unter dem Bleidach der Kathedrale geführt hatten?
»Es gibt keinen Anfang, kein Ende und keinen Gott. Denn selbst ein Gott müßte sich bewegt haben, um die erste Bewegung der sogenannten Schöpfung zu bewirken!«
Menennery Luck konnte nicht ahnen, daß diese Fragen schon vor Jahrhunderten von den Clan-Chefs beantwortet worden waren. Unter den Weltlichen war der Sinn des Wesens und des Seins niemals zufriedenstellend erklärt worden. Sie waren immer nur bis in den Vorhof der Erkenntnis gelangt, weil sie nicht glauben wollten, was sie nicht beweisen konnten.
»Ein Recht, das von der Natur ausgeht, kann nicht moralisch, idealistisch oder ethisch sein!« rief Menennery Luck. »Es muß zur Waffe werden gegen das Gift der Schwärmerei von Freiheit, Frieden und Gewissenl Wir dürfen uns nicht länger blind stellen gegen unsere wahre Natur ... Doch nun genug! Ich komme jetzt zu den endgültigen Gesetzen für uns als Rest der Menschheit!«
Seine Zuhörer wagten kaum noch zu atmen. Es war, als wäre plötzlich ein eiskalter Winterhauch von der bösen Nordseite des Kathedralendachs bis ins Sakriversum geweht.
Kinder klammerten sich an die Röcke ihrer Mütter. Frauen suchten Schutz bei ihren Männern, und selbst die härtesten unter den Bankerts fühlten sich unwohl.
Menennery Luck hob die Arme, obwohl es keinen gab, der ihm entgegentreten wollte.
Er räusperte sich umständlich, dann verkündete er mit theatralischer Stimme die neuen Gesetze für die Überlebenden:
»Das erste Gesetz:
Es ist so, wie es ist! Niemand soll daher ungestraft unser Recht in Frage stellen, Gesetze zu erlassen.
Das zweite Gesetz:
Es ist so, wie es ist! Niemand soll daher ungestraft der neuen Ordnung durch Tun oder durch Nichttun schaden.
Das dritte Gesetz:
Es ist so, wie es ist! Niemand soll daher ungestraft von Vergangenheit und Zukunft zu einem anderen sprechen.
Das vierte Gesetz:
Es ist so, wie es ist! Niemand soll daher ungestraft seine eigene Erkenntnis als Wahrheit für andere ausgeben.
Das fünfte Gesetz:
Es ist so, wie es ist! Niemand soll daher ungestraft sagen, daß sich nicht alles ändern könnte.«
Menennery Luck ließ die Papierbogen sinken. Er sah sofort, daß die meisten ganz andere Gesetze erwartet hatten. Selbst Corvay und seine Berater wirkten verwirrt.
»Hm!« brummte Corvay und dann nochmals »Hm!«
Die anderen seufzten schwer.
»Und nun zu den einzelnen Verordnungen und Ausführungsbestimmungen«, rief der Advokat in die lähmende
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