Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
entziffert. Er hatte verglichen, gelernt und mit dem angeborenen Wissensdrang eines echten Alchimisten die Wahrheit gesucht.
Sie wußte nicht, wie lange er gebraucht hatte, um auch die modernen Buchstaben, Satzstellungen und Begriffe zu verstehen, die in den Artikeln der Zeitung verwendet worden waren.
»Ich kann eure Schrift lesen«, antwortete er auf die Frage, die sie gar nicht angesprochen hatte. »Natürlich ist mir vieles unverständlich. Dennoch weiß ich, daß die anderen Weltlichen so umgekommen sind, wie es der Prophet Nostradamus vorausgesagt hat. Das Feuer jener Nacht kam aus dem Stein der Weisen , dessen Geheimnis schon die alten Alchimisten kannten. Die Weltlichen waren zu dumm: sie wollten sehen, was sie nicht glauben konnten!«
Nancy blickte ihn mit unverhohlener Bewunderung an.
»Und ich dachte die ganze Zeit, ihr Schander seid nur degenerierte Bauern«, sagte sie leise.
»Wer die Geheimnisse des Universums nicht versteht, darf über sie nicht urteilen!«
Sie nickte. Nachdenklich nippte sie an dem Becher mit Met, den Guntram ihr gereicht hatte.
»Wie kommt es eigentlich, daß wir uns verstehen können? Vor siebenhundert Jahren wurde doch ganz anders gesprochen!«
»Das ist die Alte Sprache«, sagte Guntram. »Bis heute nacht wußte ich auch nicht, woher die Clan-Chefs ihr Wissen und ihre geheimen Informationen über die Entwicklung der Weltlichen hatten. Ich bin erst dahinter gekommen, als Meister Albrecht erzählte, daß er der letzte Weltwächter ist, von dem die Clan-Chefs in den Nächten zum Sonntag lernten und dabei erfuhren, wie es unten aussieht. Durch dieses alte Ritual hat sich auch die Sprache der Familien in gewisser Weise der Entwicklung unten angeglichen.«
»Aber wie konnte Meister Albrecht wissen, was unten geschah?«
Guntram lächelte.
»Siehst du die Röhren dort?« fragte er und deutete auf eine Reihe von glänzenden und bleistumpfen Leitungen an der Wand neben dem Heiligen Buch.
»Was ist damit?«
»Die Röhren bilden einen Teil der geheimen Informations-Systeme ohne die das Sakriversum niemals siebenhundert Jahre überstanden hätte. Einige der Röhren reichen bis in die Sakristei und zu den Beichtstühlen unten in der Kathedrale.«
Nancy sah ihn fassungslos an.
»Du meinst, daß ihr hier oben alles mithören konntet, was in den Beichtstühlen unter dem Siegel der Verschwiegenheit geflüstert wurde?«
»Zu uns kam nie ein Händler, der über die Ereignisse in anderen Gegenden berichten konnte«, sagte Guntram entschuldigend. Er räusperte sich und trank einen Schluck Met, ehe er weitersprach: »Seit siebenhundert Jahren leben wir mit dem Fluch, unter dem Bleidach dieser Kathedrale isoliert zu sein. Niemals hat einer von uns die sündhafte verbotene Welt betreten! Aber wir mußten wissen, was die Weltlichen dachten und beabsichtigten. Nur so konnten wir immer wieder einer Entdeckung ausweichen ...«
Nancy fühlte, wie eine schwere, angenehme Müdigkeit durch ihre Glieder strömte. Sie trank noch einen Schluck Met.
»Ich habe viel gehört in den vergangenen Stunden, sagte sie. »Trotzdem verstehe ich den eigentlichen Grund für eure seltsame Verbannung nicht! Ich weiß inzwischen, daß eure Urahnen uneheliche Zwillinge waren. Aber was war denn so verwerflich an ihnen oder ihrem Vater Roland von Coburg. Gut, er war der Sohn eines Papstes. Das war doch damals keine Schande! Hat es nicht viele Päpste mit illegitimen Kindern gegeben? Ist nicht sogar eine Päpstin während einer Prozession niedergekommen?«
Sie schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Da muß noch etwas anderes sein, Guntram!«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, daß man keine Kathedrale umbaut, nur weil eine Äbtissin schwanger wird!«
»Vergiß die Kindesleichen in den Mauern vieler Kirchen nicht ...«
»Unsinn!« sagte Nancy. »Natürlich mag das hin und wieder vorgekommen sein, aber Roland war kein armer Mann. Er hatte Geld und Einfluß. Mit einem Fingerschnippen hätte er dafür sorgen können, daß niemand etwas von den Folgen seines Aufenthalts im Kloster von Altomünster erfuhr. Ein paar Dukaten hätten genügt, um gute und verschwiegene Zieheltern für Lancelot und Gudrun zu finden!«
»Merkwürdig«, stimmte Guntram zu. »Langsam verstehe ich, was du meinst. Roland von Coburg wollte , daß seine Kinder lebten - aber nicht unter anderen, sondern isoliert und ganz auf sich allein gestellt. Wie Adam und Eva in einem neuen Paradies ...«
»Vielleicht dachte er an eine neue, sündenfreie
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