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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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man zehn Stunden gemeinsam einem alten Mann zuhört?«
    »Jedes Zusammensein von suchenden Menschen ist eine Stufe der Erfahrung auf dem langen Weg zu Gott«, sagte Guntram. Es kommt nicht darauf an, was wir tun, sondern wie wir es tun, jeder nach seiner Art.«
    Sie sah ihn aufmerksam an.
    »Das widerspricht allem, was ich bisher gelernt habe.«
    Guntram nickte.
    Weil ihr dort draußen immer nur die äußerlichen Ergebnisse eures Daseins bewerten durftet. Ihr hattet längst vergessen, daß Leben mehr ist als eine physisch nachweisbare Existenz ...«
    »Ist es denn mehr?« fragte sie leise.
    Guntram legte seine Hand auf ihren Arm.
    »Leben ist eine Glaubensfrage«, sagte er. »Wer nur ängstlich bemüht ist, sich selbst zu erhalten, hat nichts verstanden«
    Sie sah ihn an, und in ihren Augen standen Tränen.
    »Es ist ein schönes Gefühl, wieder zu Hause zu sein«, sagte sie.
    »Du warst doch noch nie hier ...« »Nein, aber ganz tief in meinem Herzen schwingt etwas wie ein Lied, das ich nie gehört, aber schon immer gekannt habe.«
    »Meinst du das, was Meister Albrecht uns erzählt hat?«
    »Das gehört auch dazu«, sagte sie, »aber eigentlich meine ich etwas anderes. Man muß die Freiheit haben, seine eignen Erfahrungen zu machen und dabei stets zu wissen, daß man zu seiner eigenen Familie zurückkommen kann - ganz gleich, was geschieht ...«
    »Jetzt sprichst du wieder unverständlich!«
    »Niemand kann das verstehen, Guntram, höchstens Waisenkinder! Ich bin ja nicht einmal das, sondern nur eine perfekte Kopie! Ein Seelenmonster, das nie den ersten Herzschlag seines Lebens im Mutterleib erfahren durfte. Ich habe nicht geschrien, als ich das Licht erblickte. Niemand hat mich gestreichelt und geküßt. Meine Mutter war ein Brutkasten, meine Kinderschwestern Wissenschaftler, die nur vernünftig mit mir umgingen ...«
    Guntram sah sie lange nachdenklich an. Sie war ganz anders als Agnes. Ihre langen, schwarzen Haare fielen in weichen Wellen über ihre Schultern. Außer ihm und Meister Albrecht war sie jetzt der einzige Mensch, der die ganze Wahrheit über das Sakriversum kannte.
    »Komm, trink den Wein!« sagte er und gab ihr einen Becher.
    »Ich habe Angst, Guntram!«
    Er nickte.
    »Ich auch«
    Warum sollen wir alles wieder vergessen?« fragte sie.
    »Vielleicht ist es ja nur für eine unbestimmte Zeit ...«
    »Das wäre möglich«, überlegte sie, »denn Meister Albrecht hat gesagt, daß alles wichtig ist, was er uns erzählte ...«
    »Er fürchtet, daß er sterben muß. Seit dem Tod von Großvater und Meister Wirnt ist Bieterolf der letzte Logenmeister. Sie konnten nur zu dritt unter der Anleitung von Meister Albrecht bis zu den tieferen Geheimnissen vordringen.«
    »Merkwürdig«, sagte Nancy. »Noch vor wenigen Tagen hätte ich nicht geglaubt, daß es diese verborgenen Geheimlehren wirklich gibt ...«
    »Du sprichst noch immer wie eine Weltliche «, stellte Guntram fest. Sie sah ihn verwundert an.
    »Woher willst du das wissen?«
    Er senkte den Blick. Vorsichtig sah er sich um. Meister Albrecht schlief, während seine Finger über der Decke zuckten.
    »Ich habe oft nach unten gesehen«, sagte er leise. »Niemand außer Agnes wußte das. Es begann damit, daß ich ein Rohr mit Beryllos-Linsen an beiden Enden unter den Sachen fand, die mein Vater in einer alten Truhe versteckt hatte. Später wehte ein Sturm ein großes, dünnes Laken bis zu der Stelle unterhalb der Teufelsmauer, von der aus ich die Weltlichen beobachtet habe. Das Laken war auf beiden Seiten mit Buchstaben bedeckt ...«
    Nancy sah ihn verwundert an.
    »Meinst du etwa eine Zeitung? «
    Guntram nickte.
    »Ja, so hieß das Laken! Es stand in großen Buchstaben auf der Vorderseite - Buchstaben, die so geschrieben waren, daß ich sie lesen konnte! Auch die Überschriften waren aus den gleichen Buchstaben zusammengesetzt wie in jenem Buch dort drüben ...«
    Er zeigte auf den gläsernen Kasten an der Wand, in dem sich das Heiligtum der Schander befand.
    Nancy brauchte eine Weile, bis sie die ungeheure Ironie verstand, die Guntram zu einem Wissenden gemacht hatte. Siebenhundert Jahre lang war das Volk der Schander fast ohne Kontakt zur Außenwelt immer weiter degeneriert. Erst zwei, drei Jahre vor dem Untergang dieser Außenwelt hatte ein Zufall eine der letzten richtig gdruckten Zeitungen bis zum Dach der Kathedrale geweht. Eine Zeitung, bei der noch Fraktur-Buchstaben für Überschriften verwendet worden waren.
    Guntram hatte die Buchstaben

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