Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Gerüst.
Mathilda sah sich suchend um. Die Clan-Chefs waren wieder bei ihren Familien. Nur ihre eigene Familie wirkte aufgelöst und ohne Zusammenhalt.
Mathilda schüttelte unwillig den Kopf. In dieser Stunde sollten die Bankerts erfahren, daß nichts das Volk der Schander auseinanderreißen konnte!
Sie drehte sich um, rief Hanns ein paar kurze Anweisungen zu, dann holte sie Ulf, Lea, Dietleib, Meta und die Kinder zusammen. Sie sorgte dafür, daß sie einen Platz unmittelbar vor dem Gerüst bekamen.
Nach und nach kamen auch die übrigen Bankerts näher. Während sich die Schander in zwölf Clans ordneten, standen die Bankerts ohne inneren Zusammenhalt in losen Haufen zwischen dem Rosettenfenster und dem Waldrand an den Hängen des Sündangers.
Murphys Paukenschläge wurden immer heftiger. Er wechselte den Rhythmus, versuchte dumpfe Wirbel und ließ in unregelmäßigen Abständen harte Schläge einfließen. Plötzlich hörte er auf. Gebannt starrten die Angehörigen der beiden unterschiedlichen Völker auf das Gerüst mit dem König und seinen Beratern.
Zuerst trat Hector vor. Der ehemalige Ringer strich sich über seinen Dschingis-Khan-Bart, ehe er die Daumen in die Riemen hakte, die seine breite Brust umspannten.
»Hört mir mal zu!« rief er mit dröhnender Baßstimme. »Vielleicht habt ihr vergessen, daß heute Sonntag ist! Nun gut, aber gestern war der Tag von König Corvays Sieg über das Schicksal! Deshalb wird fortan jeder einundzwanzigste April gefeiert, klar?« Er machte eine Pause und sah sich um.
»Gut, Hector«, flüsterte Galus hinter ihm. »Weiter so!«
»Wir werden heute mit einer Bestandsaufnahme beginnen. Ich fordere daher alle Clan-Chefs der Schander auf, ihre Familien zu zählen und uns dann das Gesamtergebnis zu nennen, aufgeteilt nach Männern, Frauen und Kindern unter zehn Jahren ...«
»Laß die Zahl der Bankerts weg, Hector«, sagte Galus leise. »Jan und die Wachen haben bereits in der Nacht festgestellt, wie viele wir sind. Es ist nicht gut, wenn die Schander jetzt schon erfahren, daß wir nur fünf Dutzend Köpfe zählen!«
Hector nickte. Er hatte die ganze Zeit geglaubt, daß sie viel mehr sein müßten. Kopfschüttelnd drehte er sich wieder um.
»Nun?« rief er den Clan-Chefs zu. »Wie viele seid ihr?«
»Wir waren einhundertvierundvierzig, als wir in die Keller flohen«, rief Bieterolf, der letzte Logenmeister. »Nun sind nur noch einhundertdreiunddreißig von uns hier: achtundvierzig Männer, zweiundvierzig Frauen und dreiunddreißig Kinder unter zehn Jahren ...«
»Zu viele nutzlose Bälger!« knurrte Ed Jankowski.
»Jedenfalls für die ersten harten Jahre«, nickte Severino.
»Zu viele Münder«, sagte auch Galus besorgt. »Zusammen mit uns muß das Sakriversum jetzt rund zweihundert Menschen ernähren. Ein Viertel mehr als vorher! Das wird Probleme geben ...«
Galus stellte sich neben Hector. Er hob die Arme, bis Ruhe eintrat. Nur ein paar Kinder weinten noch.
»Männer und Frauen!« rief er mit lauter Stimme. »Hört, was euch Llewellyn Corvay, unser König, jetzt zu sagen hat!«
Er trat einen Schritt zur Seite. Corvay war wesentlich größer und schwerer als seine Berater. Das Gerüst schwankte, als er sich etwas zu weit nach vorn begab. Er achtete nicht darauf. Mit vorgestrecktem Kinn, den Bart nicht mehr verfilzt und in ziemlich sauberen Kleidungsstücken, blickte er über die im Sakriversum Angekommenen hinweg.
»Bankerts und Schander! «
Er hob die Arme ebenso wie vor ihm Galus. Seine kräftige, etwas heiser wirkende Stimme schallte durch den Westteil des Sakriversums.
»Jeder von euch hat in den vergangenen Tagen und Wochen Übermenschliches geleistet! Ihr habt gedürstet und gehungert! Einige von euch haben Freunde und Verwandte sterben sehen! Ihr habt erfahren, daß kein Weltlicher die Katastrophe überstanden hat. So, wie ihr jetzt zusammensteht, seid ihr der Rest der Menschheit! Einige von euch wollten in den Kellern sterben, weil sie keinen Mut mehr hatten! Andere haben mir nicht geglaubt, daß ich den Weg hierher noch finde! Aber jetzt sind wir hier und können unsere Zukunft planen!«
Er ließ die Arme sinken. Gleich darauf nahm er sie wieder hoch. »Hört deshalb, wie es weitergeht!«
In atemloser Stille warteten die Bankerts und die Schander auf die nächsten Worte von König Corvay.
»Noch fünf Sekunden Pause«, flüsterte Galus von hinten. »So, jetzt ...«
»Jeder von uns hat das Recht zu leben!« rief Corvay theatralisch. »Wir werden
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