Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
König Corvay!« sagte sie schließlich. »Der Kerl soll erst einmal beweisen, daß er wenigstens das Zeug zum Bürgermeister hat!«
»Mach dich nicht unglücklich«, warnte Lea.
»Denkst du, ich habe Angst vor diesem Fettwanst?«
Mathilda stand zwischen den Himbeersträuchern. Sie reckte sich und strich sich mit beiden Händen über die Hüften. Ihr voller, praller Busen wirkte wie ein Bollwerk.
»Der soll mir kommen!« sagte sie lachend. »Aber allein und ohne seine aufgeblasenen Berater!«
Sie steckte zwei Finger in den Mund und pfiff so laut, daß selbst die Tiere unten am Teufelsmoor vor Schreck verstummten.
Das Dorf erwachte. Überall öffneten sich Fensterläden. Verstörte und verschlafen wirkende Schander und Bankerts steckten den Kopf ins Freie. Die meisten begriffen nicht, wo sie sich befanden und was geschehen war.
Nach und nach kamen sie aus den Häusern. Sie lehnten sich an die Hauswände, gähnten und trotteten zur Straße. Es dauerte lange, bis sich auch im Haus von Meister Bieterolf etwas rührte. König Corvay und seine Berater schienen einen festen Schlaf zu haben.
Endlich öffnete sich das große Tor. Patrick Murphy ritt auf seinem Muli nach draußen. Er war voll angekleidet und trug seinen großen Kardinalshut. Mit feierlichen Bewegungen schlug er auf die Paukenfelle an den Flanken seines Reittiers.
Hinter ihm kam Hector aus dem Haus. Er wirkte wie ein Gladiator mit seinen Lederriemen über der Brust. Die Fackel in seiner rechten Hand warf flackernde Schatten über die Straße.
Menennery Luck sah wie ein mittelalterlicher Zauberer aus. Er hatte einen hohen, spitzen Hut auf. Sein schwarzer, abgeschabter Anzug glänzte fast so wie die Aktentasche, die er mit beiden Armen festhielt.
Und dann erschien König Llewellyn Corvay. Mit langsamen, gemessenen Schritten folgte er seinen Beratern. Hinter ihm kamen Galus, Ed Jankowski und Severino.
Sie gingen um den Turm des Buch-Heims herum, überquerten die Dorfstraße und setzten sich auf die Bänke unter der Linde.
Hector rammte die Fackel in den Wiesenboden. Er schnippte mit den Fingern. Jan und Pete traten wie bei einer steif inszenierten Theatervorstellung in den Lichtkreis.
*
»Was macht er?« fragte Corvay.
»Wir haben eine Schnur von der Westseite zum Dach gespannt und von dort zu diesem Baum.«
»Eine Schnur? Wozu?«
»Sobald er sich bewegt, zieht Bronco an der Schnur, damit die Töpfe an dem Ast dort klappern ...«
Jan zeigte nach oben. Direkt über den Bänken hingen verschiedene Töpfe und Pfannen zwischen den Zweigen.
»Hm«, brummte Corvay.
»Habt ihr denn eure Sprechfunkgeräte nicht mehr?« fragte Galus unausgeschlafen.
»Das sind doch nur Miniausführungen für die Arbeit am Hochseil. Auf die Entfernung funktionieren sie nicht mehr mit ihren schwachen Batterien ...«
Galus blickte Jan und Pete mißtrauisch an.
»Und was machen wir, wenn er wirklich kommt?« fragte Hector.
»Hat er denn einen Grund?« knurrte Llewellyn Corvay. »Was sollte einen halbwegs normalen Mann veranlassen, fünfzig Meter oder mehr durch die Dunkelheit unter dem Dach einer Kathedrale zu tappen. Draußen scheint die Sonne, Männer! Da kriecht doch niemand freiwillig über verstaubte Gewölbebögen!« »Er kam schon gestern abend an«, sagte Galus. »Er könnte den Wald gesehen haben ...«
» ... und die Schander an ihren Feuern!« warf Patrick ein.
»Verdammt! Das ist wahr!«
»Ich möchte wissen, warum er überhaupt hier heraufgeklettert ist«, meinte Galus nachdenklich.
»Vielleicht weiß er ja irgend etwas«, sagte Hector. »So wie wir ...«
»Mein Gott, bist du naiv!« stöhnte Corvay. »Hast du etwa geglaubt, was ich euch alles erzählt habe? Ihr wußtet doch, wer ich bin und was ich mache! Und ihr habt Spaß daran gehabt, zusammen mit mir eine hübsche kleine Vorstellung zu inszenieren! Ein Fest für alle Zwerge, ein wenig historischer Zirkus in einer Kathedrale. Wechsel auf die Zukunft, Mysterienspiele, Ablaßbriefchen, großzügige Spenden etcetera, etcetera ...«
»Du bist ein Schwein!« sagte Galus leise.
Patrick lehnte sich an den warmen Leib seines Mulis.
»Wenn ich das alles nur früher erkannt hätte ...«
Galus, der auf der Nordseite des Sakriversums gelebt hatte, trat vor Llewellyn Corvay.
»Eigentlich kann niemand dir einen Vorwurf machen! Wir leben, und das ist dein Verdienst. Aber Absicht, Ursache und Wirkung waren noch nie dasselbe in der Geschichte der Menschheit! Dein Plan hat zur Folge, daß es noch Menschen gibt.
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