Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
die Schander aus dem Sakriversum holen. Das übersteht keine der beiden Gruppen auch nur ein halbes Jahr. Die einen gehen an Entwurzelung zugrunde, die anderen aus Unfähigkeit!«
Goetz seufzte. Was konnte er denn wirklich tun?
Es wurde Zeit, daß er wieder hinaufging.
Auch diesmal hatte er kein Glück. Guntram meldete sich wieder nicht. Er mußte unbedingt mit ihm sprechen. Deshalb entschloß er sich, am nächsten Morgen wieder zum Sakriversum aufzusteigen.
*
Am 24. April wurden auf Befehl von König Corvay sämtliche Männer und die Hälfte der Frauen zur Arbeit am Bollwerk verpflichtet.
Die andere Hälfte mußte im Dorf kochen, backen, die Alten versorgen und Kleinkinder hüten. Kinder zwischen acht und zwölf Jahren wurden auf die Felder und in die Gärten geschickt. Sie sollten Wurzeln ausgraben, Beeren pflücken und Frühgemüse ernten.
Trotzdem ging Corvay alles viel zu langsam.
Am Abend des zweiten Tages war die zerstörte Stelle im Rosettenfenster durch eine haushohe Mauer verschlossen, aber auch das genügte Corvay noch nicht.
Wer nicht vor Müdigkeit umsank, mußte auch nach Einbrach der Dunkelheit weiterarbeiten, Netze knüpfen und Seile spannen.
Patrick hatte die Felle von seinen Paukenkesseln gelöst. Unermüdlich ritt er auf seinem Muli zwischen dem Dorf und der großen Baustelle an der Westseite des Sakriversums hin und her.
Bei jedem Ritt brachte er zwei Kessel Suppe, Brot, Braten, Wein oder Wasser mit. Trotzdem reichte es nicht aus, um die Erschöpften wieder zu kräftigen.
Als nur noch wenige mit langsamen, müden Bewegungen arbeiten konnten, gab König Corvay den Befehl zum Schlafen. Die meisten fielen dort um, wo sie gerade standen.
Corvay rief seine Berater in einer nach Westen abgeschirmten Mulde am Sündanger zusammen. Er zog auch Jan hinzu. Sie setzten sich um ein kleines Feuer. Patrick versorgte noch sein Muli, dann kam er auch in die Runde.
Schweigend warteten sie darauf, daß Corvay zu sprechen begann. Der selbsternannte König des Sakriversums ließ sich Zeit. Erst als jeder einen Becher Met hatte, hob er seinen Krug.
Sie tranken, wischten sich über die Lippen und blickten ihn an. Corvay sah von einem zum anderen.
Hector sah schmutzig und verschwitzt aus. Galus konnte nur noch mit Mühe die Augen offen halten. Menennery Luck hantierte mit einigen Papieren. Nur Jan und Patrick waren die Anstrengungen des langen, schweren Tages nicht anzumerken.
»Das war der erste Tag, wie ich ihn mir gewünscht habe«, sagte König Corvay schließlich. »Was haltet ihr davon?«
Hector starrte schweigend ins Feuer. Er bewegte mahlend seinen kantigen Unterkiefer.
Galus schloß für einen Moment die Augen. Jan und Patrick warfen sich einen verstohlenen Blick zu. Es war Menennery Luck, der sich veranlaßt fühlte, Corvay zu antworten.
»Ein langer, aber ein guter Tag. Wir haben hart gearbeitet und viel geschafft ...«
»Du und viel geschafft!« knurrte Hector unwillig.
»Aber ja doch! Jetzt haben alle begriffen, daß meine Gesetze befolgt werden müssen!«
»Meine Gesetze!« korrigierte Corvay.
»Natürlich, natürlich! Ich meinte auch nur ...«
Corvay brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Und du Galus? Warum sagst du nichts?«
»Ich bin müde«, antwortete der Arzt, ohne die Augen zu öffnen. »Vielleicht ist Härte in den ersten Tagen richtig, aber du darfst den Bogen nicht überspannen.«
»Keine Sorge! Bereits morgen werden alle das Gefühl haben, mit vereinter Kraft etwas Großes geleistet zu haben. Das ist es, was wir brauchen: Die vereinte Kraft. Danach lassen wir die Zügel wieder etwas lockerer. Wir werden Großzügigkeit an den Tag legen und Gunstbeweise geben. Aber nicht an die besten, sondern an die gefährlichsten von unseren Leuten. Das wird sie weich und für eine Weile friedlich machen.«
»Du hast wirklich das Zeug zum König!« stöhnte Patrick und massierte seine schmerzenden Muskeln.
»Wer hat das je bezweifelt?« fragte Menennery Luck.
»Ich!«
Galus blinzelte interessiert. Hector bewunderte Patricks Mut. Nur Corvay nickte bedächtig.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte er und grinste. »Ihr habt vielleicht in den letzten Tagen manchmal gedacht, daß ich die Dinge zu sehr treiben lasse. Aber das war und ist ein Irrtum!«
Er trank bedächtig einen Schluck Met.
»Ich weiß genau, daß wir den Winter nicht überleben können, wenn wir nicht eine der härtesten und totalitärsten Diktaturen errichten, die es je gegeben hat. Das betrifft nicht nur
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