Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
der graue Kasten.
Goetz blickte hilfesuchend zu den kostbar gekleideten Mumien. Als er in ihnen noch stolze, unnahbare Kirchenfürsten vermutet hatte, waren ihm ihre Gesichter unnachgiebig und abweisend vorgekommen:
Herrscher aus einer längst fremd gewordenen Welt!
Doch jetzt wußte er, daß sie eine lange Kette gebildet hatten. Sie waren die Hüter eines großen Geheimnisses gewesen. Und weder Zeitströmungen noch ihre eigenen Zweifel hatten sie wankelmütig gemacht.
Nachdenklich ging er zur Vorratskammer.
*
Er arbeitete bis kurz vor Mitternacht. Mit Hilfe der Bildschirme im Vorratslager rechnete er aus, welche Nahrungsmenge zweihundert Menschen in zwei Jahren verbrauchen würden.
Dabei konnte er sich nur auf vorhandene Statistiken stützen, und auch die waren unterschiedlich.
Er erfuhr, welche Nahrungsmenge ein Mitteleuropäer verbraucht hatte, der an die automatischen Versorgungssysteme angeschlossen gewesen war. Diese Zahlen waren vorhanden.
Schwieriger wurde es beim Durchschnittsbedarf von Slumbewohnern und Nichtregistrierten. Dazu kamen regionale und kontinentale Abweichungen von der Norm.
Die Angaben für die ewig Hungernden der Dritten Welt kamen mit wenigen Positionen aus: Reis, Maniok, Bohnen, Milchpulver und bestenfalls ein halbes Dutzend weiterer Angaben ...
Als Goetz nach vielen Stunden mit steifem Rücken aufstand, wußte er, daß er so nicht weiterkam. Er mußte von Guntram eine genaue Aufstellung darüber anfordern, wieviel im Sakriversum zum Überleben erforderlich war.
Er schenkte sich die letzte halbe Tasse Tee aus einer Thermoskanne ein. Obwohl er sich die ganze Zeit mit Nahrungsmitteln beschäftigt hatte, konnte er jetzt nichts essen.
Er nahm eine Schreibplatte, einen Kontaktstift, ein Sprach-Speichermodul für seinen Armband-Terminal und einen Handscheinwerfer aus den Regalschüben, dann ging er nach oben.
Drei Minuten vor Mitternacht versuchte er einen ersten Kontakt an dem Bleirohr, von dem er den Beichtstuhl gerissen hatte. Punkt Mitternacht rief er Guntram von einem anderen Beichtstuhl aus.
Danach versuchte er es von verschiedenen Stellen fast eine halbe Stunde lang.
Das Sakriversum antwortete nicht. Goetz beschloß, wieder nach unten zu gehen. Dann erinnerte er sich an das Bett in der Krypta mit den Fernsehkameras. Das war bequemer.
*
Den ganzen folgenden Tag arbeitete er, unterbrochen von einigen Pausen, wieder im Vorratslager.
Gegen Abend wußte er, daß er das Sakriversum zwei Jahre lang ernähren konnte. Da er bis Mitternacht noch Zeit hatte, spielte er einige der gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts entstandenen Überlebens-Modelle durch.
Es war eine eher entspannende Beschäftigung. Die meisten Bildschirmspiele waren so einfach aufgebaut, daß jedes Kind merken mußte, wie falsch sie waren. Nur bei einigen Ausnahmen entdeckte Goetz komplizierte Strukturen, bei denen auch scheinbar unwichtige Entscheidungen im weiteren Spielverlauf verheerende Folgen hatten. Dabei wurden nicht nur wirtschaftliche oder ökologische Planzahlen bewertet, sondern auch emotionale und psychologische Veränderungen.
Daran hatte er nicht gedacht!
Ihm wurde plötzlich klar, daß er das Sakriversum unmöglich so versorgen durfte, wie es technisch möglich gewesen wäre.
Er erkannte sofort das Dilemma. Schaffte er zu wenig nach oben, würden zuerst die Schander verhungern - lieferte er zuviel, schob er damit den Zeitpunkt der Selbstversorgung noch weiter hinaus, denn niemand würde die Notwendigkeit des vollen, eigenen Einsatzes einsehen!
Selbst, wenn er genau die richtige Menge traf, mußte bei der Verschiedenartigkeit von Schandern und Bankerts ein Zweiklassen-Staatswesen entstehen - die einen als Arbeiter und die anderen als Ausbeuter ...
Aber würde das nicht in jedem Fall passieren?
»Gar nicht so einfach«, murmelte er. Er zählte verschiedene Alternativen an seinen Fingern ab:
»Möglichkeit eins - gar nichts tun. Dann verhungern zuerst die Schander oder werden umgebracht. Anschließend sterben die Bankerts , weil sie nicht gelernt haben, im Sakriversum zu existieren.«
Goetz schüttelte den Kopf.
»Möglichkeit zwei - die Bankerts aus dem Sakriversum vertreiben. Das wäre Mord!«
Keine Alternative.
»Möglichkeit drei - die Bankerts aus dem Sakriversum holen und ihnen das Vorratslager überlassen. Dann leben sie drei, vier Jahre wie die Maden im Speck und sind anschließend lebensunfähige Psychopathen. Ebenfalls Mord!«
Auch keine Alternative.
»Möglichkeit vier -
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