Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
nicht wenigstens er etwas tun?
Aber was? Sollte er versuchen, ins Dorf zu kommen? Hatte es Sinn, sich mit den Kleinkindern und den wenigen Frauen, die er ab und zu sah, im Buch-Heim zu verschanzen? Was konnte er dadurch verändern?
Ein Vogel flatterte aus einem Busch. Er hüpfte bis zum wasserlosen Bach, suchte nach einem letzten Rinnsal.
Das brachte Lello auf eine Idee. Er dachte an die vertrocknete Wintergerste. Dem Sakriversum fehlte Wasser!
Und die Zisternen waren randvoll. Er hatte es gesehen!
Er hastete den steilen Berg hinauf zu den Zisternen an der Teufelsmauer. Lello humpelte aufgeregt an den großen Wasserbehältern entlang. Zwei von ihnen speisten den Bach. Die anderen auf beiden Seiten hatten schräg zur Seite laufende Kanäle mit Schiebern, die halb so groß waren wie er.
Er untersuchte die Seile, die über Rollen und komplizierte Umleitungen kreuz und quer durcheinanderliefen. Es sah fast wie an einem historischen Stellwerkhäuschen aus.
Lello wischte sich mit dem Zeigefinger über die Nasenlöcher. Das ganze Sakriversum war eine höllisch komplizierte Angelegenheit!
Er wußte nicht, wie es funktionierte, aber eins war sicher: es fehlte Wasser!
Er versuchte es an der östlichsten Zisterne. Zunächst koppelte er die Seilverbindungen los. Dafür brauchte er bereits zwanzig Minuten. Er knotete das obere und das untere Steuerseil des Sperrschiebers zusammen und hakte sie über einen Steinvorsprung.
Dann faßte er mit beiden Händen eine schwere Handkurbel. Ihr metallisches Schneckengewinde griff in ein Zahnrad, ein zweites drehte sich langsamer und das dritte, das größte Zahnrad, griff in die Nuten an der Seite des Schiebers.
Lello kurbelte und kurbelte, konnte aber kaum eine Bewegung des Schiebers erkennen. Nur unter seinen Füßen spürte er ein zunehmendes leises Zittern. Es wurde zu einem Rauschen und dann zu einem Beben.
»Ich bringe euch Wasser!« keuchte er. »Wasser für das Sakriversum!«
Er lief zur nächsten Zisterne. Diesmal konnte er die Seilknoten schneller lösen. Und wieder kurbelte er angestrengt, bis er das Rauschen in den Kanälen hörte.
Die dritte Schleuse schaffte er bereits in zehn Minuten. Unter ihm dröhnte der Boden wie in den Städten, wenn Versorgungsbomben durch die unterirdischen Tunnel donnerten.
Lello wurde nicht müde, immer mehr Wasser für die trockenen Felder in die verborgenen Kanäle zu leiten. Trotzdem mußte er sich ausruhen, als er am Bach ankam. Er zitterte vor Anstrengung.
Von der Westseite hörte er Hammerschläge, mit denen Eisen geschmiedet wurde. Vom Eichberg kam der Klang von Sägen und Äxten, dazwischen Warnrufe, wenn wieder ein stürzender Baum nach unten krachte.
Lello verstand nicht, was sie machten. Es hörte sich an, als würden sie in großer Hast die Kathedrale weiterbauen wollen. Ab und zu mischten sich helle Schläge von Hämmern und Steinmeißeln unter die vielfältigen Geräusche.
So ähnlich mußte es sich vor siebenhundert Jahren in den Steinbrüchen, den Wäldern und den Bauhütten rings um den mächtig emporragenden Bau angehört haben ...
Aber warum?
Warum sägten, hämmerten und schmiedeten sie, statt die Felder zu bearbeiten?
»Corvay muß verrückt sein!« sagte er zu sich selbst, aber er wußte besser als viele andere, daß Llewellyn Corvay nicht verrückt war. Bisher hatte alles, was dieser Mann tat, immer sehr handfeste Gründe gehabt!
Schon früher war Lello immer wieder erstaunt gewesen, wie gut Corvays Informationen waren.
Wären sie sonst in der alles verheerenden Nacht in der Kathedrale gewesen? Und nicht im Mittelschiff, sondern im Bleikeller-Studio?
Lello erinnerte sich noch genau an seinen großen Auftritt. Er hatte in der Mitternachts-Show Possen gerissen, als die Regisseure, Kameramänner, Tonmeister und Assistenten jenseits der Bleiglasscheibe, die das Studio vom Regieraum trennte, einer nach dem anderen in sich zusammensanken.
Corvay hatte seinen Leuten befohlen, die ganze Nacht und auch noch den nächsten Tag im Studio zu bleiben. Er hatte sie angebrüllt, wenn Frauen Wasser für ihre Kinder verlangten. Und mehr als einmal hatte er sein Schwert gezogen, das zum Kostüm gehörte, in dem die kirchlichen Fernsehleute ihn und die anderen Teilnehmer am Weltkongreß der Kleinsten ihren Zuschauern vorführen wollten. Corvay mußte also ganz genau gewußt haben, wann das große Feuer kam, von dem nicht nur Nostradamus, sondern auch die biblischen Propheten und die Geheimbünde der Rosenkreuzer und der
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