Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
...«
Er schneuzte sich umständlich in ein schmuddeliges, rotkariertes Sacktuch, steckte es weg und rückte seinen Topfhut gerade. Nur Clan-Chefs und verheiratete Frauen trugen Kopfbedeckungen - die einen ihre Hüte, die anderen Bänderhauben.
»Die Sache ist doch die«, sagte er schließlich. »Wir sind ein Volk von Ausgestoßenen, das sich seit sieben Jahrhunderten recht und schlecht am Leben gehalten hat. Wir waren isoliert, aber wir wußten doch recht gut, was draußen in der Welt geschah, weil einige von uns hören konnten, was unten vorging ...«
»Willst du uns jetzt einen deiner sattsam bekannten Vorträge halten?« fragte Herbort sarkastisch.
»Du schlachtest, operierst, verwertest und vergräbst«, sagte Otto in ungewohnter Schärfe. »Jeder von uns hat immer seinen Platz gehabt im Sakriversum. Aber wir wußten auch, daß es nördlich von uns elende Bankerts gab, mit denen wir nie etwas zu schaffen haben wollten! Wir haben so gelebt, als würden auf der ganzen Erde weder Bankerts noch Weltliche existieren! Wenn ihr die Schriften ebenso deuten könntet wie ich und vielleicht Meister Wolfram, dann wüßtet ihr ... dann wüßtet ihr ...«
Er stockte, wiederholte sich und brach plötzlich ab.
Neue Geräusche drangen in den Bleikeller. Sie kamen von außen. Wie gelähmt verharrten die Angehörigen des kleinen Volkes auf den verschiedenen Etagen der Bohlentische.
Kinder klammerten sich an ihre Mütter. Männer und halbwüchsige Jünglinge griffen nach den Langmessern an ihren Gürteln, deren scharfgeschliffene Enden zu Sichelhaken ausgeformt waren. Niemand dachte jetzt noch daran, ob sie gemeinsam den Wein der Letzten Gnade trinken sollten ...
» Bankerts! «
Der Ruf flog von Lippe zu Lippe. Damit hatte keiner gerechnet!
Und dann kamen sie.
Der wilde, ungeordnete Landsknechtshaufen drang grölend, fackelschwenkend, mit trunkenen Weibern im Gefolge, in die Gruft ein. Während überall hastig Leitern nach oben gezogen und Seile von Flaschenzügen gekappt wurden, füllte sich der Bleikeller mit immer neuen Horden.
Ganz oben griff Mathildas Mann Hanns nach einer für ihn viel zu großen Fanfare. Er schleppte sie bis an den Rand des Bohlentischs und blies mit aller Kraft, die seine Lungen hergaben, in das Mundstück.
Der schrille Ton wurde vielfältig von den Wänden der Gruft zurückgeworfen. Die Bankerts wieherten vor Lachen. Sie schrien, kreischten und ließen ihre Waffen klirren. Einige schnappten nach lose von den Tischen baumelnden Seilen, andere schichteten Bohlen, Bretter und Gerümpel übereinander.
Ein junger, ungelenk wirkender Mann in einem bunten Harlekin-Kostüm humpelte eilig zu einem Seil und schwang sich höher.
»Wetzt eure Messer, Brüder!« rief er. »Zieht Sensen blank und schärft die Hakensicheln! Denn jetzt kommt Corvay mit seinen Mannen und Lello, seinem Narren ...«
Die Schander auf den Pyramidentischen wichen in den Schatten zurück. Der Narr der Bankerts sprach nicht so wie sie; sein Reden war schneller, härter und von anderer Betonung, aber sie konnten nur zu gut verstehen, was er meinte ...
» ... ’s ist Lello!« tuschelten die alten Frauen auf den Tischen.
»Ich gab ihm Brot«, flüsterte eine.
»Ich gab ihm Wein ...«
»Ich gab ihm alles«, bekannte Mathilda. »Und wenn ihr mich auch steinigt ... in dieser Stunde sage ich, daß er ein Sohn meines Bruders Ekkehard ist ...«
»Ein Schander ?«
»Ein Bankert ?«
»Ein Bastard! « sagte Lea kühl und ohne sichtbare Gefühlsregung. Ulf hielt ihre Hand. Sie standen neben Guntram und Agnes. In diesem Augenblick erkannte Guntram, wieviel Leid und Wissen sich in Lea angestaut haben mußte. Er hatte plötzlich das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen.
Er löste sich von Agnes und ging zu ihr.
»Stimmt das, was Mathilda sagt?« fragte er so leise, daß Agnes ihn nicht hören konnte.
Lea sah ihn mit einem wehmütigen Lächeln an und nickte.
»Dann ist Lello unser Stiefbruder?«
Sie nickte wieder und versuchte, die Tränen aus den Furchen ihres Gesichtes abzuwischen. Guntram legte seine Fingerspitzen an ihre Wangen.
»Nicht weinen«, bat er. Er überlegte, zögerte und fragte dann: »Wer war seine Mutter?«
Lea sah über die verängstigten Schander und die grölenden, triumphierenden Bankerts weiter unten hinweg.
»Ich«, sagte sie leise.
»Du?«
Guntram wich einen halben Schritt zurück.
»Aber du bist doch ...«
»Ich bin älter als ihr glaubt! Als ich Ulf heiratete, hatte ich bereits ein Kind ausgetragen ...
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