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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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störten noch immer die Harmonie der schwarzen Linien. Sie kritzelten ihre blutigen Zacken einfach über das saubere Schriftbild der zwölf anständigen Zeichenarme.
    Goetz achtete nicht darauf, daß große Tränen auf die durchsichtige Platte fielen. Er konnte sie nicht aufhalten. Wie kleine, totgeplatschte Wassertiere rannen seine Tränen über die Plastikabdeckung - ein paar zuerst, dann immer mehr ...
    Am Rand des Registrierstreifens tauchte ein Datumszeichen auf:
    17/04/2018 DI
    »Einundvierzig Tage!« murmelte Goetz, als er mühsam im Kopf nachgerechnet hatte, wann der Blitz die Stadt getroffen hatte. Er konnte es einfach nicht fassen. Und plötzlich hatte er das Gefühl, daß er in die Kathedrale gehen sollte, um seinem Schöpfer dafür zu danken, daß er noch lebte.
    Es war ein wahnsinniger, unwirklicher, durch nichts zu rechtfertigender Gedanke. Aber war nicht die Wirklichkeit ebenso verrückt und in obszöner Weise widersinnig?
    Goetz von Coburg war kein Mann, der an Aufgaben zerbrach. Immerhin gehörten Kathedralen-Baumeister zu seinen Vorfahren ...
    Seit er unbewußt ahnte, daß seine Existenz und sein Überleben mehr als eine Summe von Zufälligkeiten sein konnte, sah er sich selbst in einem ganz anderen Licht.
    Er begann wichtig zu werden ...
    Die Leuchtstoffröhren flackerten, ehe ihr gleißend helles Licht den Aggregate-Raum erfüllte. Goetz von Coburg lächelte kaum merklich. Er dachte nicht mehr an die grausamen Tage der Dunkelheit zurück. Im Nebenkeller fand er eine Sanitäreinheit. Er zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Vorsichtig regulierte er die Wasserstrahlen. Das Wasser kam aus Tiefbrunnen, die noch nicht verseucht sein konnten. Er seifte sich sorgfältig ein und trank mit nach hinten geneigtem Kopf hin und wieder einen Schluck.
    Mit einer fast perversen Lust am Leiden drehte er die Wasserstrahlen immer heißer. Die scharfe Hitze fraß den Dreck der bösen einundvierzig Tage von seiner Haut. Er schrie vor Schmerz, krümmte sich zusammen und wußte doch, daß er lieber unter heißem Wasser als unter tödlichem Staub verbrennen wollte.
    Ganz zum Schluß löste er Wasserentgiftungstabletten aus einem eingebauten Wandschrank in der Duschmulde auf. Er trank eine Salzlösung und warf die Kleidungsstücke, in denen er den Neutronenblitz überlebt hatte, in einen Mikrowellen-Müllverbrenner.
    Die letzte Dusche schmerzte am schlimmsten. Eiskaltes Wasser peinigte seine Haut wie eine Peitsche. Er konnte sich kaum abtrocknen. Eingemummt in saubere Handtücher hockte er fast eine halbe Stunde neben dem dampfenden Duschbecken.
    Dabei fragte er sich die ganze Zeit, warum sein Geist nicht in der Lage gewesen war, diesen Ausweg eher zu erkennen. War er vielleicht schon so verseucht, daß er sich wie ein Idiot benahm? Und welche Fehler würde er jetzt noch begehen? Als letzter Mensch und als das einzige Opfer, das den tödlichen Blitz überlebt hatte ...
    Er dachte an den Tod der kleinen Taube.
    Sie tat ihm leid - fast mehr als seine Angestellten, die er nur aus den Augenwinkeln als Mumien in ihren Sesseln gesehen hatte.
    Einen Moment lang wunderte er sich über seine Härte, doch dann hob er die Schultern und stand auf. Er wußte jetzt, woran er war. Das Verlagshaus bot ihm die Gelegenheit, jederzeit zu duschen und sauberes Wasser zu trinken. Das konnte in den nächsten Tagen ziemlich wichtig werden!
    Was er jetzt brauchte, waren Lebensmittel, eine vernünftige Schutzkleidung und möglichst viele Informationen über die Stadt. Er war entschlossen, weiterzuleben, denn ein von Coburg durfte nicht aufgeben - ganz gleich was immer auch geschah ...
    Er lächelte, als er an seinen Vater dachte.
    Als er noch kleiner gewesen war, hatten sie oft das Spiel gespielt »Was tust du wenn ...«
    Ich dien!
    Der Wappenspruch seiner Familie entsprach dem des englischen Königshauses. Zufall oder Historie - er glaubte an das, was zum Leitspruch seines Geschlechts geworden war.
    Seine Familie hatte nie ein Weltreich besessen. Aber sie hatten das Korn auf den Feldern geachtet, die Bäche und die Flüsse.
    Er suchte sich ein paar saubere Kleidungsstücke aus den unverschlossenen Schränken der toten Setzer. Er fand Stiefel, Handschuhe und neue Schürzen in einem Nebenraum, in dem die Druck-Klischees aus Blei und Zink für ihre Zeitung hergestellt worden waren.
    Unter anderen Bedingungen hätte er nicht im Traum daran gedacht, Stiefel anzuziehen. Stiefel - das waren ganz besondere Kastenmerkmale für Spezialisten, die

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