Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
noch handwerklich tätig sein durften. Seit es keine Treibjagden und keine Abenteuerreisen mehr gab, hatte niemand in seiner Familie mehr Stiefel getragen. Und das war bereits seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts. Oder sollte er besser Jahrtausends sagen?
Er lachte unwillkürlich. Kam es jetzt noch darauf an, wann er lebte?
Der Matrose Alexander Selkirk alias Robinson Crusoe hatte die Einsamkeit seiner Tage auf der Juan-Fernández-Insel noch gezählt und in Baumstämme eingekerbt.
Das hatte Goetz nicht nötig. Natürlich würden nach und nach die automatischen Systeme der Stadt ausfallen, aber einige Funktionen konnten noch Jahre überdauern ...
Er hatte gerade neue Unterwäsche, robuste braune Hosen, gelbe Gummistiefel, ein buntkariertes Wollhemd und eine braune Arbeitsjacke mit vielen Taschen angezogen, als er plötzlich mitten in der Bewegung innehielt. Sein Blick fiel auf einen kleinen Sicherheitsschlüssel. Er steckte im Tresorfach des Kleiderschranks, aus dem er die sauberen Sachen genommen hatte. Er starrte auf den Schlüssel und hatte schon beim bloßen Gedanken an das, was dahinter verborgen sein könnte, ein unangenehmes Gefühl.
Tresorfächer waren Privatsache. Sie sicherten die Intimsphäre. Außerdem unterlagen sie dem Datenschutzgesetz der Vorsorglichen Behütung ...
Sein angeborener Respekt vor den komplizierten Regeln des menschlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens ließ ihn zögern. Er war kein Schnüffler. Selbst, wenn er in der Vergangenheit die Gelegenheit gehabt hatte, Informationen zu bekommen, die ihn nichts angingen, war er eher zurückgewichen. Es entsprach nicht so sehr seinem Charakter als seiner Erziehung, daß er nichts von den Härten des Überlebenskampfes in einer Zeit wissen wollte, die er nicht als die eigene ansah.
Der Verlag war eine Zuflucht für ihn gewesen. Bei J. Samuel Bruhns waren niemals Sensationsmeldungen gedruckt worden. Alle Mitarbeiter hatten sich in den vergangenen Jahren angewöhnt, nicht über Dinge zu sprechen, die auf irgendeine Weise mit Krieg, Verbrechen, Hunger, Katastrophen oder Politik zu tun hatten. Wie mittelalterliche Klosterbrüder hatten sie sich einfach geweigert, das wahrzunehmen, was um sie herum wirklich geschah ...
Goetz dachte plötzlich an die geistige Erstarrung vor dem rätselhaften Untergang anderer Kulturen. Waren Atlantis, Lemuria und das Land Mu aus den gleichen Gründen untergegangen wie Priamos, Alexander, Dschingis Khan und Napoleon? Er dachte an die Inkas und das rätselhafte Verschwinden der Mayas. Ob sie im Augenblick des Untergangs gewußt hatten, was mit ihnen geschah?
Goetz spürte im gleichen Augenblick einen merkwürdigen Zeitstillstand. Es war, als wenn das unbekannte Gift in seinem Körper nachholen wollte, was es bisher noch nicht geschafft hatte. Er sah sich selbst, wie er zögernd vor dem Wandschrank stand.
Ein Schwarzes Loch kroch aus den Thalamus-Bereichen seines Hirns, glitt durch die Nervenbahnen seines Innenohrs und explodierte im Sinusknoten seines Herzens.
Wie eine Flagellanten-Geißel raste der peitschende Schmerz in jedes Nervenende seines Körpers. Der linke Arm wurde am schwersten getroffen.
War das ein Herzinfarkt?
Noch nie in seinem Leben hatte Goetz die Todesangst so heiß und kalt zugleich empfunden. Er wagte nicht, einfach tief durchzuatmen. Sekundenlang steckte die Angst wie ein böser Pfropfen in seiner Brust. Gleichzeitig war die Erinnerung an die merkwürdige Krankheit wieder da, die seit siebenhundert Jahren immer wieder einzelne Angehörige seiner Familie überfallen hatte.
Erst sein Vater war auf die Idee gekommen, nach den Ursachen des lästigen Gebrechens zu suchen. In seinen letzten Lebensjahren hatte er immer häufiger von einer Gonadendosis gesprochen - von einer erblichen Strahlenbelastung der Keimzellen, die schon vor Jahrhunderten aufgetreten sein mußte. Durch einen radioaktiven Meteor, durch einen Vulkanausbruch oder durch verstärkte natürliche Radioaktivität in einem ganz bestimmten Gebiet ...
Goetz preßte die Zähne zusammen.
Die Schmerzen wurden so stark, daß er sich gegen das Tresorfach lehnen mußte. Ganz langsam wurde es schwarz vor seinen Augen.
*
Die Schander an den Kanten der übereinandergebauten Bohlentische wichen entsetzt zurück, als immer mehr Bankerts in die Gruft eindrangen.
»Sieh dir das an!« sagte Guntram zornig. »Ein wilder Haufen ohne jede Ordnung!«
»Sie haben nie so wie unsere Familien im Sakriversum gelebt!«
Guntram sah seine
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