Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
vielleicht auch schon mit einer unsichtbaren Kraft aus dem Inneren der Materie angetrieben?
Als dieser Gedanke in ihm auftauchte, verlor er plötzlich seine Scheu vor der schimmernden, leise sirrenden Kugel. Er ging durch eine Wand aus Licht. Es war, als würde er in warmes Wasser tauchen.
Auf der Innenseite der durchlässigen Lichtkugel herrschte absolute Dunkelheit. Nur sehr, sehr weit entfernt rasten winzige Funken in weiten Kreisbahnen um einen im Nichts pulsierenden Feuerklumpen.
Im gleichen Augenblick erkannte Guntram, wie die Flugmaschine bewegt werden konnte. Der Feuerklumpen war ihr Herz, das aus unzähligen noch kleineren Kraftquellen bestand. Es war, als würden sie nur darauf warten, daß jemand kam, der sie erlöste und aus den Fesseln physikalischer Naturgesetze befreite ...
Guntram lächelte, als er langsam zurückwich. Jetzt brauchte er nur noch einen Platz, von dem aus er sehen konnte, wohin er mit dem goldenen Vogel flog!
*
»Mathilda! Mathilda! Komm! Schnell!«
Die aufgeregte Stimme von Reinmar drang bis in die Küche von Meister Lamprechts Haus. Seine kleine Schwester fing laut an zu weinen. Andere Kinderstimmen fielen ein.
»Was ist denn da draußen los?« fragte Mathilda Agnes. »Hat deine neue Freundin nicht aufgepaßt?«
Agnes zuckte zusammen. Sie wußte sehr wohl, daß ihre Pflegemutter Nancy nicht mochte.
Die Kinder im Garten wurden immer lauter. Einige kreischten vor Vergnügen - andere aus Angst.
Mathilda wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Wenige Augenblicke zuvor war Patrick wieder einmal mit gefüllten Kesseln aus dem Dorf geritten.
»Ich sehe mal nach«, sagte Mathilda. Sie verließ die Küche durch den hinteren Eingang. Nancy war nirgendwo zu sehen. Mathilda hob die Brauen. Vom Gemüsegarten kamen platschende Geräusche.
Mathilda verließ den Vorbau. Im gleichen Augenblick stieß sie einen spitzen Schrei aus.
»Agnes!«
Fassungslos starrte sie auf die Überschwemmung. Der Brunnen lief über. Die älteren Kinder rannten juchzend durch die immer größer werdende Pfütze.
Agnes stürzte aus dem Haus.
»Was ist denn ... oh, mein Gott!«
»Schnell! Die Kinder in die Küche und dann die Türen dicht! Die Jungen sollen Mehlsäcke übereinanderschichten ...«
Agnes zögerte nicht lange. Sie griff mit beiden Armen nach den schreienden Kleinkindern. Die meisten waren naß und schmutzig.
»Los, rein ins Haus! Ihr auch, da!«
Sie versank bereits bis zu den Knöcheln im strömenden Wasser. Im gleichen Augenblick sprang Nancy über den Zaun, der die Gärten von Meister Lamprecht und Meister Heinrich trennte.
»Das Feuer unter dem Backofen ist aus!« rief sie Agnes zu. »Die Frauen drüben brauchen dringend Hilfe. Da steht alles unter Wasser ...«
»Was denkst du, wie es hier aussieht!« antwortete Agnes ärgerlich. »Warum hast du die Kinder alleingelassen. Du solltest doch aufpassen, solange ich in der Küche war!«
Nancy kam um eine Buschgruppe und blieb abrupt stehen.
»Hier ist ja auch alles ...«
»Ja, hier ist auch alles überschwemmt!«
Nancy preßte die Lippen zusammen. Erst jetzt verstand sie Agnes’ Ärger.
»Tut mir leid. Ich hörte, daß drüben etwas passiert sein mußte, und da wollte ich nachsehen ...«
Agnes machte eine abwehrende Handbewegung.
»Komm in die Küche! Wir müssen einen Schutzwall aus Mehlsäcken errichten!«
»Wäre es nicht besser, für einen Abfluß zu sorgen?« »Willst du um das ganze Haus herumgraben? Das hat keinen Zweck! Hier bei den Häusern ist die Erdschicht nicht so tief wie auf den Feldern und in den Tälern. Wir würden nur auf steinerne Gewölbemauern stoßen. Dann unterspült das Wasser das Haus von der Seite her!«
»Kann man denn gar nichts tun?«
Agnes lachte bitter.
»Jemand hat die Schleusen der Zisternen zu weit geöffnet! Ich weiß nicht, wer sie wieder schließen kann.«
Nancy sah Agnes entsetzt an. Die beiden Mädchen standen bereits bis zu den Knien im Wasser.
»Kommt endlich rein!« rief Mathilda aus der Küche.
Sie taumelten durch die milchigweiße Wasserflut. Mathilda zog Agnes ins Haus. Nancy stolperte hinter ihr her. Ein paar kräftige Jungen drückten die schwere Holztür zu. Die kleineren Kinder hatten sich in die Ecken der Sitzbänke verkrochen.
»Holt die letzten Mehlsäcke vom Speicher!« befahl Mathilda. Zwei Jungen hielten an der Tür Wache. Agnes, Nancy und die anderen rannten in die Diele. Sie kletterten die Leiter zum Speicher hinauf.
»Werft alles nach unten, was ihr findet!
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