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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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Mittelschiff strömte, die kleinere Rosette, hinter der das Sakriversum begann, und das steinerne Speichenrad unter der Spitze des Giebels.
    Goetz vernahm plötzlich ein eigenartiges Sirren. Noch immer prasselten kleine Steinchen an ihm vorbei nach unten. Er preßte sich eng an die frische Mauer. Die vorspringenden Verzierungen schützten ihn. Trotzdem verstand er nicht, was geschah.
    Das Sirren wurde intensiver. Zum erstenmal seit vielen Tagen hörte er eine Art Flügelschlag.
    Ein Vogel!
    Sein Herz hämmerte wie verrückt. Es gab noch einen Vogel! Einen großen Vogel ...
    In diesem Augenblick löste sich ein mächtiger Schatten von der Westfassade der Kathedrale. Er strich über den Nordturm, ehe er tief unten über den Dächern der Stadt weiterzog.
    Goetz blickte nach oben. Gleichzeitig stockte ihm der Atem. Es war phantastisch. Wie ein golden glänzender Ballon flog ganz langsam ein etwa drei Meter breiter und mehr als sieben Meter langer Vogel über ihn hinweg. Die hängenden Flügel breiteten sich aus, bewegten sich wie mächtige, in Zeitlupentempo arbeitende Adlerschwingen.
    Der Riesenvogel wirkte unsicher, schwankend und wie eben erst aus einem langen Schlaf erwacht.
    Das war kein Vogel!
    »Ein Flugzeug! Eine Flugmaschine!«
    Goetz konnte sich vor Erregung kaum noch festhalten. Das ungeheuerliche, goldglänzende Gebilde legte sich leicht in die Kurve. Es beschrieb einen Viertelkreis, verlor an Höhe und schien plötzlich abzustürzen.
    Doch da wurde der Flügelschlag kräftiger. Die vogelförmige Flugmaschine stabilisierte sich. Sie flog in einem weiten Bogen über die Stadt, ehe sie hinter dem südlichen Dach der Kathedrale verschwand.
    Goetz kniff mehrmals die Augen zusammen. Sekundenlang glaubte er, Opfer einer Halluzination geworden zu sein. War das der Anfang vom Ende? Gaukelte ihm sein Unterbewußtsein jetzt schon märchenhaft verzerrte Erinnerungen an die Vergangenheit vor?
    »Paß auf, Goetz!« preßte er zwischen den Zähnen hervor. »Wenn du nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden kannst, bist du schneller tot als dir lieb ist!«
    Er löste die Finger seiner linken Hand von den Mauerverzierungen. Langsam massierte er seine Nasenwurzel. Mit der flachen Hand strich er sich den Schweiß aus der Stirn. Er brannte in seinen Augen. Vorsichtig setzte er sich in eine Hohlkehle am unteren Rand des Rosettenfensters. Er nestelte die Trageriemen vom Vorratsbeutel, zog sie durch zwei geschlitzte Steinrippen rechts und links und schnallte sich fest.
    Wie ein Arzt, der bei sich selbst Anzeichen einer beginnenden Schizophrenie diagnostiziert, wollte er weiteren Wachträumen vorbeugen.
    Er war gerade fertig, als die goldene Flugmaschine im Norden der Kathedrale wieder auftauchte. Der seltsame Vogel flog jetzt höher, sicherer und schneller. Die Flügel bewegten sich nicht mehr, sondern waren in leicht hängender Form weit ausgebreitet.
    Die Flugmaschine segelte mehrmals über die Stadt. Dabei schraubte sie sich in unglaublich engen Kurven höher. Kein Flugzeug, das Goetz kannte, wäre zu solchen Flugbewegungen fähig gewesen - höchstens Helikopter.
    Plötzlich zuckte ein Lichtblitz wie ein Wetterleuchten mitten am Tag über den Himmel. Der goldene Vogel schoß aus großer Höhe schräg auf die Kathedrale zu.
    Goetz spürte, wie die Luft vibrierte. Mit eng an den Körper gelegten Schwingen und schmalgestelltem Schwanz raste die Flugmaschine haarscharf zwischen den Turmspitzen hindurch und verschwand erneut über dem Dach.
    Wer immer den Apparat bediente, mußte eine Art tollkühner Flugschüler bei seinem ersten Alleinflug sein ...
    Guntram!
    Goetz wußte nicht, wie er plötzlich auf den Gedanken kam, daß Guntram dieser Flugschüler sein könnte. Es war, als hätte er mit den vibrierenden Schallwellen einen Gedankenimpuls aufgefangen. Aber wie sollte Guntram, dieser kaum zwanzig Zentimeter große Winzling, eine Flugmaschine bedienen, die rund dreißigmal größer war als er?
    Goetz schüttelte ungläubig den Kopf. Guntram hatte ihm nichts von einem Fluggerät erzählt, in das gut und gern sein ganzes Volk gepaßt hätte.
    Aber vielleicht waren die Schander doch ganz anders als seine Klischeevorstellungen von einem isoliert lebenden Bauernvölkchen aus dem vierzehnten Jahrhundert. Ihre Ahnen hatten immerhin die mächtigsten und kompliziertesten Kirchen in der Geschichte der Menschheit gebaut!
    Wer unter den Bedingungen absoluter Isolation sieben Jahrhunderte überleben konnte, der mußte schon eine

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