Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
abgebt?«
»Wir haben keine Vorräte mehr ...«
Lello grinste. Er wischte sich mit dem rechten Arm die langen Haarsträhnen aus dem Gesicht.
»Was höre ich? Ihr wollt uns verdursten und verhungern lassen, weil unsere Ahnen Findelkinder und keine Papstbrut waren?« »Niemand hat das behauptet!« rief Wolfram nach unten. »Wir haben selbst nichts mehr ...«
»Dann werft die Schlüssel zu den Vorratskammern runter!«
»Ja, werft die Schlüssel ...«
»Die Schlüssel!« schrien einige der bewaffneten Bankerts.
König Corvay schickte zwei seiner Berater zur Leiter, auf der sein Narr hockte. Der glatzköpfige, zartgliedrige Arzt Galus und ein stiernackiger ehemaliger Ringer namens Hector eilten verstohlen mit den Händen wedelnd auf Lello zu.
Hector warf Galus mit einem kurzen Schwung einige Leitersprossen hoch.
»Hör auf, Lello! Der König will sprechen!« flüsterte Galus. Lello schürzte die Lippen.
»Was ist passiert?« fragte er ebenso leise zurück.
»Sieh dich doch um! Sie haben nichts mehr! Ed Jankowski und Severino haben eben unbemerkt die Türen zu den Vorratskammern geöffnet. Sie sind leer ...«
»Gütiger Gott!« stöhnte Lello, obwohl ihm plötzlich ganz anders zumute war. »Was nun?«
»Llewellyn hat befohlen, daß du unsere Leute ablenken mußt! Mach irgend etwas, aber mach’s! Wir ziehen uns vorsichtig zurück!«
»Ihr seid gut! Soll ich etwa Lieder gegen den Hunger singen?«
»Du mußt sie aufhetzen, dann denken sie nicht mehr«, sagte Galus kalt. Lello blickte über die dicht aneinander gedrängten Bankerts.
»Das kann ja heiter werden!« murmelte er blaß. Im gleichen Augenblick flog ein Schlüsselbund von oben auf den Steinboden der Bleikammer.
»Nehmt diese Schlüssel«, rief Meister Wolfram. »Ihr werdet sehen ...«
Lello reagierte sofort. Er griff in die Saiten seiner Klampfe und versuchte mit einem hohen Triller die Stimme des Schanders zu übertönen. Gleichzeitig schlug der Mann mit dem Kardinalshut wieder auf die Pauken an den Flanken seines Mulis. Es war das einzige Tier, das die Strapazen des langen Zuges lebend überstanden hatte und dazu eine wertvolle Laborzüchtung aus Zwergpferden und Eselssamen. Sein Besitzer hieß Patrick Pembroke Murphy. Er stammte aus Wales, trug sein feines, schwarzes Haar mit einer Innenrolle bis auf die Schultern und paßte auch sonst nicht recht zu den anderen.
Patrick Murphy war zum erstenmal in der Kathedrale. Dort, wo er herkam, hatte sich niemand an seinen ungewöhnlichen Zwergenwuchs gestört. Im Gegenteil: schon sein Vater hatte einen für ihn reservierten, handgeschnitzten Sitzplatz im Dorf-Pub unweit der alten Königsburg Caernarvon in Wales gehabt.
Nur wenige wußten, warum ein Mann wie Patrick Llewellyn Corvays Ruf gefolgt war. Vielleicht hing es mit den uralten Überlieferungen zusammen, die in Wales an den keltischen Namen Llewellyn geknüpft wurden. Denn Wales war stets ein Land gewesen, in dem die Sagen etwas galten ...
Lellos Klampfe und Patricks Pauken lärmten so stark, daß niemand mehr die Worte der Schander oben auf den Bohlentischen verstehen konnte.
Als Meister Wolfram die Schlüssel zu den Vorratskammern nach unten warf, stürzten sich mehrere Waffenträger gleichzeitig auf sie, doch Hector war schneller.
Der Kahlköpfige mit einem Dschingis-Khan-Bart raffte den Schlüsselbund vom Boden und brachte ihn Corvay. Lello war gespannt, was ihr Anführer jetzt tun würde. Wenn es zutraf, daß die Vorratskammern leer waren, sah es auch für den selbsternannten König nicht gut aus ...
Doch Corvay war ein listenreicher Mann. Er hob die Schlüssel in den Schein der Fackeln, führte sie mit einer theatralischen, weitausholenden Bewegung bis dicht vor seine Augen, dann biß er auf einen Schlüssel und lachte grimmig.
Lello wußte nicht, wie es Corvay schaffte, einen Schlüssel nach dem anderen dicht über dem Bart durchzubrechen. Er schleuderte die abgebrochenen Stücke über die Köpfe seiner murrenden Anhänger bis an die Wände der Gruft. Lello hörte auf zu spielen. Auch die Pauken von Patrick verstummten.
»Das ist Betrug, Schander! « rief Llewellyn Corvay zu den verwirrten Clan-Chefs hinauf. Er ließ den Rest des Schlüsselbunds fallen und schlug die zu Fäusten geballten Hände an seine breite Brust.
Das wütende Gemurmel der Bankerts wurde lauter. Corvay hob beide Arme, ruheheischend und ganz Herr der Lage.
»Ihr wagt es, mir die Schlüssel anzubieten von Vorratskammern, die ihr längst leergefressen
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