Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
habt?«
Lello auf der Leiter verzog unwillkürlich das Gesicht. Das war mutig und geschickt zugleich!
»Ihr wagt es, mich zu foppen?« dröhnte Corvays Stimme weiter. »Wo sind die anderen Schlüssel - die für die kleinen Kammern?«
Lello holte ein Schnupftuch aus seinem Wams. Er schneuzte sich. Es klang wie ein Trompetenstoß in der plötzlich eingetretenen Stille. Fast hätte er vor Schreck über den Lärm, den er verursachte, seine Klampfe fallen lassen.
»Gibt es auch kleine Kammern?« fragte er tuschelnd. Galus sah ihn kopfschüttelnd an.
»Sei still, du Narr!« zischte Corvays Berater. Lello zuckte zusammen. Für einen Augenblick hatte er vergessen, welche Rolle er spielen mußte. Er kletterte ein paar Sprossen auf der Leiter höher und kauerte sich neben Galus.
»Was hat er vor?«
»Das siehst du doch! Wenn sie noch etwas haben, dann oben auf dem letzten Tisch ...«
Lello pfiff leise durch die Zähne.
»Und wenn sie die Wahrheit sagen?«
»Dann müssen wir verdammt schnell zusehen, daß wir nach oben oder raus kommen!«
»Eijeijei«, hauchte Lello und wedelte mit den Händen. Es sah bei Gott nicht gut aus ...
*
Goetz wachte von der Kälte des Fußbodens auf. Er brauchte eine Weile, bis er sich wieder daran erinnerte, wo er sich befand. Gleichzeitig kamen die Schmerzen wieder. Er zitterte am ganzen Körper. Seine Haut brannte, und in den Wunden seines Kopfes pochte das Blut.
Er hatte plötzlich mehr Angst vor einer Infektion als vor dem, was tief in seinem Körper steckte. In diesem Augenblick dachte er nur noch an sich selbst.
»Krank!« röchelte er. »Ich bin krank ...«
Seine Stimme kam ihm fremd vor. Er hörte sie anders als sonst. Vorsichtig richtete er sich auf. Er kroch zum Wandschrank. Seine Finger tasteten nach einem Kasten mit roten Kreuzen an den Seiten. Er schob die Kleidungsstücke des unbekannten Setzers zur Seite. Während er den Erste-Hilfe-Kasten öffnete, kreisten seine Gedanken immer wieder um die gleiche Frage:
Warum ging es ihm plötzlich viel schlechter als unter der Dusche? Er hatte doch gegessen und getrunken. Sein Körper war wieder sauber. Er hatte neue Sachen an. Warum dann dieser unerwartete, schmerzhafte Schwächeanfall?
Mühsam öffnete er die Verpackung einer Brandbinde. Er wickelte die präparierte Gaze um seinen haarlosen Kopf. Die Haut war viel empfindlicher geworden. Sie schmerzte, als wenn sie jeden Moment wieder aufplatzen würde. Aber das Schlimmste war dieser wahnsinnige Druck in den Ohren ...
Goetz mußte sich wieder anlehnen. Er saß auf dem Boden. Mit beiden Händen hielt er seine zitternden Beine fest. Er fror wie nie zuvor in seinem Leben.
Während er mit grimassenhaften Kaubewegungen versuchte, seine Gehörgänge frei zu bekommen, fiel ihm wieder die Familienkrankheit ein. Hatte sie ihn jetzt auch erreicht?
Die ungewöhnliche Abart der Otosklerose begann normalerweise im Alter von zwanzig Jahren mit leichter Schwerhörigkeit und entwickelte sich schnell bis zur Unfähigkeit, bestimmte Schallfrequenzen zu hören.
Als sein Vater die Geschichte der Familienkrankheit bis zu ihren Anfängen im vierzehnten Jahrhundert zurückverfolgt hatte, war er auf einige mysteriöse Fakten gestoßen:
Kein Arzt der Welt konnte sagen, warum eine Otosklerose entstand. Die eigentlichen Ursachen dieser besonderen Art von Taubheit war auch im einundzwanzigsten Jahrhundert noch immer ungeklärt. Das galt für die Familienkrankheit ebenso wie für andere Formen der beidseitigen »Ohrverhärtung«.
Die merkwürdigste Übereinstimmung war aber der schon lange nachgewiesene, unregelmäßig dominante Erbgang.
Goetz überlegte, ob die Sekundärstrahlung in den Tagen nach der Katastrophe ihn jetzt erst erreicht haben könnte. Vielleicht war sie der Grund dafür, daß das alte Leiden bei ihm so unvermittelt aufgetreten war ...
Ein neuer Gedanke drängte die gefährliche Mutlosigkeit beiseite. Er konnte nicht einfach sitzenbleiben und abwarten! Wenn er überhaupt noch eine Chance haben wollte, mußte er sich zwingen, nach Überlebensmöglichkeiten zu suchen!
Noch immer zitternd richtete er sich auf. Er zog sich an der Schranktür hoch. Für einen Augenblick drehte sich alles um ihn. Der Schwindel ging ebenfalls von seinen Ohren aus. War das der Grund dafür, daß sich einige seiner Vorfahren plötzlich unverständlich benommen hatten?
Er erinnerte sich an die oft nur angedeuteten Aufzeichnungen in der Familienchronik. Da war von Rittern die Rede, die mitten im Turnier die
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