Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
sie greifen uns tatsächlich an ...
Goetz blickte fassungslos auf die letzten Lebensäußerungen des Redakteurs, mit dem er manchen Abend in der Altstadt verbracht hatte. Er zwang den Gabelstapler weiterzurollen. Die gelbe, bullige Maschine rumpelte zum Ausgang des Verlagsgebäudes. Unmittelbar vor der schweren geschnitzten Holztür lag der Leichnam eines alten, einbeinigen Mannes auf dem Boden.
Goetz konnte gerade noch anhalten. Der Gabelstapler rammte nur leicht gegen die Tür.
Goetz sprang ab und beugte sich über die Leiche des Mannes, der für alle Verlagsangestellten stets mehr als ein Faktotum gewesen war. Sie hatten ihn Padre genannt.
Er mußte noch versucht haben, die Tür zu erreichen. Goetz nahm die halbverweste Leiche auf und trug sie in den Glaskasten neben der Tür. Die Pförtnerloge war seit Jahrzehnten Padres Reich und außerdem ein Ort gewesen, an dem man Neuigkeiten erfuhr und gleichzeitig eigene Informationen loswerden konnte.
Jetzt war Padre tot. Und mit ihm die gesamte Menschheit. Goetz konnte nichts dafür, daß ihm Tränen über die Wangen liefen.
4. KAPITEL
Der Rauch der vielen Fackeln machte die Luft immer stickiger. Auf dem obersten Bohlentisch bemühten sich die Clan-Chefs der Schander verzweifelt um einen Ausweg.
»Sie glauben uns einfach nicht«, stellte Meister Wirnt fest.
»Aber wir haben doch wirklich nichts mehr, was wir ihnen geben könnten«, stöhnte Meister Otto.
»Was sollen wir tun?« fragte Meister Bieterolf.
Meister Wolfram blickte schweigend nach unten. Als er sich wieder umdrehte, glich sein Gesicht einer Totenmaske.
»Wir haben nur noch eine einzige Möglichkeit«, sagte er langsam. Er strich sich mit zitternden Fingern über die Stirn. »Wir müssen ihnen sagen, wo noch Vorräte sind ...«
Die anderen Clan-Chefs sahen ihn verständnislos an.
»Aber wir haben keine ...«
»Doch!« sagte Meister Wolfram. »Im Sakriversum!«
Bieterolf verstand als erster.
»Soll das heißen, daß wir ihnen den Weg in unsere Welt freiwillig offenbaren? Nach sieben Jahrhunderten?«
»Einige von ihnen haben stets auf der Nordseite gelebt. Ohne unsere Sicherheitsvorkehrungen hätten sie jederzeit die Möglichkeit gehabt, den Weg zur Südseite zu entdecken!«
»Dann sollen wir freiwillig preisgeben, was wir immer vor Fremden geschützt haben?«
Meister Wolfram sah Meister Bieterolf lange an.
»Ja«, sagte er dann, »denn für den Wein der Letzten Gnade ist es bereits zu spät. Wir können ihn nicht mehr holen ...«
Die zwölf Clan-Chefs bildeten einen Kreis. Sie faßten sich an den Händen. So wurden seit Jahrhunderten gemeinsame Beschlüsse gefaßt. Bieterolf zögerte, Meister Lamprecht ebenfalls.
»He, ihr da oben?« rief König Corvay vom Boden der Gruft. Der Lärm nahm wieder zu. »Gebt ihr uns freiwillig, was ihr habt, oder sollen wir es holen?«
Die Clan-Chefs schlossen alle ihr linkes Auge. Mit den anderen sahen sie sich an. Ihre Blicke bildeten ein unsichtbares Symbol aus zwölf Linien, in dessen Schnittpunkt eine schwebende, dreieckige Flamme erschien.
Das Zeichen der Logenmeister!
Nie hatten andere als in die Mysterien Eingeweihte das Gralszeichen gesehen. Und dann erschien an einer Wand der Gruft das Menetekel, mit dem die Meister den Zweifler warnten:
Non facere potest quod posse facere non credit . 1
Frauen und Kinder der Bankerts schrien auf. Sie warfen ihre Arme hoch und schützten ihre Augen vor dem Flammenlicht an der Wand. Selbst die Männer wichen erschrocken zurück. Sie ließen ihre Waffen fallen, einige fluchten, andere bekreuzigten sich verstohlen.
Die Schander auf den oberen Bohlentischen begannen leise zu singen. Ganz oben faßten sich Männer, Frauen und Kinder an den Händen. Sie gingen Schritt für Schritt auf den Kreis der Logenmeister zu. Mathilda nahm Guntrams Hand, Hanns die von Agnes. Die Zeichen waren so stark und mächtig, daß sie vergaßen, was vorher zwischen ihnen gewesen war.
Während die Schander ganz im gemeinsamen Gebet aufgingen und dabei das Bedrohende der Situation vergaßen, näherte sich König Corvay im Kreise seiner Berater den Leitern. Weiter oben schwang sich eine junge Trapezartistin von einer Tischplatte zur nächsten. Sie knotete dünne Seile aneinander, ließ Leitern herab und zog Angehörige ihrer Truppe nach - junge Männer und Frauen in schmutzigen, ehemals grellfarbigen Overalls, Theaterkostümen und Trikots.
Nach und nach hievten sie Flaschenzüge, Strickleitern und winzige Maschinen höher, die wie an
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