Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
etwas tat ...
Es interessierte ihn plötzlich nicht mehr, in der Vergangenheit von Toten zu wühlen. Die Tochter von J. S. B. lebte nicht mehr. Es war zu spät, jetzt noch Fragen zu stellen. Andererseits konnte es auch ein Schutz sein, wenn Antworten für immer offen blieben!
Mechanisch räumte er den Rest des Tresorfachs aus. Was ihm nichts sagte, wischte er einfach nach unten. Ganz hinten ertastete er ein Paket mit getrockneten Feigen. Sie schmeckten süß und gut gealtert. Während er langsam kaute, dachte er über sich selbst nach. Wie lange blieben Abdrücke individuellen Lebens einer fernen Nachwelt erhalten? Was konnte er tun, um die Jahre, die ihm noch blieben, zu einem nützlichen Leben zu machen?
Er dachte an Moorleichen, Grabgeschenke, Pyramiden, Höhlenzeichnungen, Saurier-Eier, Ammoniten. Irgendwann und irgendwo würden wieder Lebewesen entstehen, in denen eines Tages der Wunsch wach wurde, die Spuren ihrer eigenen Vergangenheit zu deuten. Was konnte er, Adam eternus , ihnen mitteilen?
Aus irgendeinem Grund hatte er plötzlich das Bedürfnis, sich die Fingernägel zu schneiden. Sie waren lang und brüchig geworden in den letzten Wochen ...
Er wühlte in einem Verbandskasten und stopfte, als er mit seiner Maniküre fertig war, einige Sachen aus dem Kasten in seine Taschen. Er zog frische, talkumgepuderte Gummihandschuhe über die Hände und knotete einen präparierten Mundschutz vor sein Gesicht. Mehr konnte er nicht tun. Trotzdem hatte er Angst vor dem Gang nach draußen. Er dachte an die roten Zackenlinien auf dem Endlosband des Meß-Terminals.
Schwefeldioxid, CO 2 , Fallout ...
Was war tödlicher?
Die gelben Gummistiefel quietschten leise, als er über die glatten Bodenkacheln des Kellers ging. Der Nebenraum war dunkel. Er verharrte für einen Augenblick bewegungslos, ehe er auch noch die Leuchtstoffröhren des Raumes löschte, in dem er wieder Mensch geworden war. Die Dunkelheit schreckte ihn noch immer. Er würde lange brauchen, bis er das Trauma der einundvierzig Tage ohne Realitätsbewußtsein überwunden hat ...
Weitere Leuchtröhren flammten auf. Papierstapel und altmodische Holz-Paletten standen dicht nebeneinander vor weißgekalkten Wänden. Ein gelber Gabelstapler war ordentlich neben einer schrägen, hellgrau lackierten Rampe geparkt. Seine glattgewetzten Greifer lagen wie glänzende Metallkrallen auf dem Boden.
Goetz war bereits auf der Rampe, als er auf die Idee kam, den Gabelstapler für seinen ersten Ausflug nach draußen zu benutzen. Zögernd ging er zurück. Er hatte noch nie auf einem Gabelstapler gesessen. Er besaß ja nicht einmal einen Führerschein ...
Nachdenklich starrte er auf die Steuersäule mit den elektronischen Kontrollen. Auf einem Plastikschild waren die wichtigsten Bedienungsvorgänge aufgezeichnet. Es fiel ihm schwer, sich auf die einfachen Striche und Worte zu konzentrieren. Mit ungelenken Bewegungen kletterte er auf den Sitz.
PERSONEN-CODE EINGEBEN!
Er mußte eine ganze Weile überlegen, bis ihm seine Registriernummer wieder einfiel:
1993-GVC-1203
Er tippte die Kombination auf eine Sensorplatte an der Steuersäule. Kein Datenexperte hatte ahnen können, was Goetz in einer derartigen Situation durch die Eingabe seines Personen-Kodes bewirkte: Die Stadt und alles, was dazu gehörte, war schlagartig ihm unterstellt, doch Goetz konnte nicht wissen, daß der harmlos wirkende Gabelstapler an das Teledatensystem der Energie-Kommission angeschlossen war ...
Er spielte vorsichtig an den Kontrollen, probierte ein paar Funktionen aus und brachte dadurch Tausende von automatisch gesteuerten Systemen überall in der Stadt durcheinander!
Der Gabelstapler schoß plötzlich nach vorn. Er rollte über die schräge Ebene. In den Büroräumen hockten mumifizierte Lektoren und Redakteure an ihren Schreibtischen. Einige hatten versucht, dem tödlichen Neutronenblitz zu entfliehen. Sie lagen an Telekopierern, hingen vor grünlich flackernden Bildschirmen oder waren über ihren großen Layout-Blocks zusammengesunken. Einem war es noch gelungen, die Katastrophenmeldung über ein Keyboard an die Leuchtwand der Gebäudefassade zu projizieren. Ein anderer hatte versucht, mit einem echten weichen Bleistift das drohende Inferno zu formulieren:
BUTZ ... FLASH ... COSMIC ... Schwärme von Cruise Devils über Appenzell und anderen Alpen-Forts ... Marschrichtung- Nord ... Kaiser-Wilhelm-Spacelab XII meldet bedrohliche Zunahme von Intercontinentals ... sie greifen an ... mein Gott,
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