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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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Metallstangen zusammengeschraubte Motorräder ohne Bereifung aussahen. Kleine Verbrennungsmotoren wurden laut knatternd gestartet. Der Lärm der verbotenen Motoren übertönte den Gesang der Schander .
    »He, Nancy!« rief ein junger Mann der Artistin zu. Sie hängte sich mit einem Bein an einen Metallstab, der an zwei Seilen pendelte. Mit geschickten Schwüngen erreichte sie ein schräges, inzwischen straff gespanntes Seil. Sie ließ sich auf den Sitz eines Motorrades fallen. Gleichzeitig glitt ihr Partner auf das verkehrt unter dem Seil hängende Motorrad. Die beiden Maschinen drehten sich wie eine Spindel um einen Wollfaden. Mal war sie oben, mal er.
    Das eingespielte Team ließ die Motoren lauter werden. Ein paar Bankerts klatschten. Verzweifelt versuchten die Schander , mit ihrem Gesang den Lärm zu übertönen, der für sie eine böse Erinnerung an die wilden Zeiten der Weltlichen war. Einige der Bankerts waren ebenso klein wie Schander , aber sie gehörten dennoch nicht zu ihnen. Im Gegenteil! Für die Familien von der Südseite des Sakriversums waren die Bankerts stets eine dumpf erahnte, gefährliche Bedrohung geblieben ...
    »Jan!«
    Die Motorradartistin wirbelte die beiden aneinandergekoppelten Maschinen korkenzieherartig höher. Ihr Partner folgte routiniert ihren kaum wahrnehmbaren Anweisungen. So hatten sie bereits die neuen Wolkenkratzer von New York, den St.-Louis-Bogen, die Niagarafälle und die Präsidentenköpfe des Mount Rushmoore bezwungen.
    »NANCY & JAN - die todesmutigen Wahnsinnszwerge!«
    Sie schleppten ein zweites Seil höher, ließen sich mit gedrosselten Motoren steil nach unten fallen, nahmen neue Seile auf die Haken an ihren Motorrädern und wiederholten ihre artistische Leistung.
    Der Kokon aus Schnüren, Seilen und Leinen wurde immer dichter. Kaum jemand verstand, wie Nancy und Jan es schafften, eine Art Seilbrücke nach oben anzulegen.
    Als das scharfe Knattern der Maschinen mit zwei, drei lauten Fehlzündungen verstummte, sprangen Nancy und Jan auf einen Bohlentisch direkt unter der obersten Ebene. Sie hoben die Hände und verbeugten sich nach unten.
    Lello war so begeistert, daß er mehrmals falsche Töne auf seiner Klampfe anschlug. Patrick Murphy legte einen Paukenwirbel ein.
    Jetzt kam Corvays Auftritt.
    Er ließ sich von seinen Helfern über die ersten Tischebenen heben. Sein Sitz glich einer Schaukel, die sich an langen Seilen drehte. Er erreichte die von Nancy und Jan gesponnene Röhre aus Seilen und Tauwerk. Schnaufend kletterte er langsam höher. Seine Berater folgten ihm, jederzeit bereit, ihn bei einem Fehltritt aufzufangen ...
    Es dauerte eine Weile, bis Llewellyn Corvay den dünnen, schwankenden Tisch unterhalb der letzten Plattform erreichte. Schon während des Wegs nach oben hatte er gesehen, daß die Schander sehr arm dran sein mußten. Leere Weinfässer, ausgekratzte Holzbütten, in denen Milch transportiert worden war, stumpf glänzende Kupferkessel und Aschenplätze von verlassenen Feuerstellen markierten den letzten Fluchtweg der Schander.
    Sie hatten sogar die Knochenreste von früheren Fluchtunternehmen zu Mehlsuppe verarbeitet ...
    Corvay gab sich Mühe, möglichst langsam und gemessen durch das Netzwerk der Seile, Tampen und Taue nach oben zu steigen. Dafür gab es mehrere Gründe: zum einen wollte er nicht zeigen, daß er mehr Zeit zum Nachdenken brauchte, zum anderen wußte er wirklich nicht weiter. Er hatte plötzlich das Gefühl, auf ein Schafott zu steigen. Die übereinandergestapelten Tische der Schander kamen ihm wie Blutgerüste vor. Er sah keinen Unterschied mehr zwischen den seit Jahrhunderten isolierten Baumeister-Nachkommen und dem zusammengewürfelten Haufen, dem er eine neue, glorreiche Welt versprochen hatte ...
    In diesem Augenblick verfluchte er seine größenwahnsinnige Idee. Warum war er nicht weiterhin Agent und Manager von Artistengruppen, ausgeflippten Bands, skurrilen Kleindarstellern und begabten Mißgeburten geblieben?
    Was hatte ihn veranlaßt, den Ausgestoßenen, Zukleingeratenen und Lächerlichen ein neues Paradies zu versprechen? Ein Stückchen Heimat, ein Refugium, ein Zuhause.
    Er hatte ihnen große Träume angeboten. Eine eigene Welt, in der sie so sein durften, wie sie waren. Und noch viel mehr ...
    Llewellyn Corvay lauschte dem monotonen Gesang der Schander über sich. Sie waren stets ein in sich geschlossenes Volk gewesen, doch jetzt hatten auch die vom Schicksal Bevorzugten keine innere Kraft mehr!
    Corvay sah, daß seine

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