Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
einige andere Artisten zogen den Korbsessel bis zu Corvay.
»Wir wollen was zu fressen!« schrie eine Frau von ganz unten.
»Los, Corvay, hol die richtigen Schlüssel!«
Lello hockte auf einer Leiter. Er zuckte zusammen. Automatisch schlug er ein paar Akkorde auf seiner Klampfe. Die Pauken von Patrick Murphy fielen als dumpfes, dröhnendes Echo ein.
Corvays Berater flüsterten. Sie spürten, daß die ungeheure Spannung der Enttäuschten jederzeit in Panik und Chaos umschlagen konnte. Ein falsches Wort, eine falsche Bewegung von Corvay würde genügen ...
Der König der Bankerts schneuzte sich. Er fühlte sich schon längst nicht mehr wohl in seiner Haut, doch wie schon viele andere vor ihm wuchs er mehr und mehr in seine Rolle hinein. Er spielte nicht mehr den Anführer - er war der König!
Vielleicht lag es am Hunger, am Durst und an den langen Nächten, in denen er immer nur das Weinen fremder Kinder gehört hatte. Was anfänglich nur als Staffage und Statisterie für seinen Coup geplant gewesen war, bildete inzwischen eine Gemeinschaft, für die er verantwortlich war. Denn auch er selbst war ein Gefangener der Umstände ...
Er schritt auf den Korbsessel zu. Die Seile ächzten, als er sich in das Geflecht setzte.
Jan stieß einen leisen Pfiff aus. Sofort zogen die Schander den Sessel höher. Weit unten hielten Männer, Frauen und Kinder aus dem Troß den Atem an. Nur einige der Kleinsten weinten weiter. Gleichzeitig sorgten Menennery Luck und Hector dafür, daß Corvay Rückendeckung erhielt. Sie schickten Artisten und junge Waffenträger zur anderen Seite des Tisches und ließen sie vorsichtig nach oben klettern.
Als Llewellyn Corvay allein mit seinem Korbsessel oben ankam, hingen überall unter der obersten Tischplatte andere Bankerts , bereit, sofort einzugreifen, wenn die Schander versuchen sollten, Schwierigkeiten zu machen.
Aber sie machten keine Schwierigkeiten.
Corvay stieg aus dem Sessel. Er ging auf Meister Wolfram zu, doch nur soweit, daß er von unten noch zu sehen war.
»Wo sind die Schlüssel?« rief er.
»Wir haben keine anderen Schlüssel«, antwortete Wolfram leise.
»Und keine Vorräte?« fragte Corvay ebenso leise zurück. Er hatte sofort gesehen, daß es auch hier nichts mehr zu holen gab. Die Schander waren noch schlimmer dran als seine Leute. Sie hatten buchstäblich nichts mehr ...
»Wir haben noch eine alte Flasche Wein unten in den Vorratskammern«, sagte Meister Wolfram ernst. »Wir hätten gemeinsam unseren Wein der Letzten Gnade getrunken, wenn ihr nicht gekommen wärt.«
Obwohl er sich bemühte, so zu sprechen, wie Corvay es gewöhnt war, fiel es dem König der Bankerts schwer, den alten Mann zu verstehen. Er wußte, daß die Schander noch immer in einer eigentümlichen, mittelalterlich klingenden Sprache redeten. Sie betonten jeden Vokal und ließen sich Zeit, komplizierte Folgen von Konsonanten auszusprechen. Nur dadurch gelang es Corvay, den Sinn von Meister Wolframs Worten zu verstehen.
»Du hast vor vielen Jahren meinen Sohn Ekkehard getötet«, sagte Meister Wolfram. Corvay hatte nicht damit gerechnet, auf diese alte Geschichte angesprochen zu werden. Ehe er dazu kam, eine Erklärung zu formulieren, sprach Wolfram weiter.
»Dein Narr ist dennoch ein Verwandter von uns. Wir würden gern den Bräuchen unseres Volkes folgen, aber wir haben nichts mehr, was wir euch anbieten können.«
»Warum kehrt er nicht zurück ins Sakriversum?«
»Wir sind zu schwach.«
»Gibt es ... gibt es oben noch Nahrungsmittel?«
Meister Wolfram neigte den Kopf.
»Du weißt, wie unsere Welt beschaffen ist. Wenn du uns in Frieden sterben läßt, gebe ich dir meinen Teil des Plans ... «
»Das Testament?« keuchte Corvay mühsam beherrscht.
»Ja, aber nicht alles. Ein letztes Geheimnis müssen wir mit ins Grab nehmen!«
Corvay blickte über den Kreis der Schander hinweg. Das kleine Volk drängte sich dicht um die zwölf Clan-Chefs. Sie wirkten blaß, ausgehungert und sahen ihn mit großen Augen an. Das Licht der Fackeln von unten hüllte sie in einen eigenartigen, rötlichen Dämmerschein.
Ein junger Mann und ein Mädchen, das wie seine Schwester aussah, standen etwas abseits. Die beiden erinnerten Llewellyn Corvay an das Paar, das vor zwölf Jahren einen verborgenen Weg durch die Teufelsmauer gefunden hatte. Es war ein sonderbares Gefühl, in diesem Augenblick die Kinder von Ekkehard und Uta wiederzusehen. Damit hatte er bei seiner gesamten Planung nicht gerechnet. Denn nur die
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