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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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auf.
    Im ersten Moment war er maßlos enttäuscht. Der Kasten enthielt nur zwei Schußwaffen, die mindestens hundert Jahre alt waren. Duellpistolen, dachte er. Er schüttelte den Kopf, lachte, als er merkte, wie unsinnig diese Überlegung sein mußte. Wie sollten Duellpistolen in eine Kathedrale kommen - und das zehn Jahre nach der weltweiten Ächtung aller privaten Schußwaffen ...
    Als er genauer hinsah, entdeckte er auf beiden Waffen einen geprägten Kreis mit den ineinander verschlungenen Buchstaben S. & W. Das gleiche Zeichen wiederholte sich auf den Griffschalen.
    Obwohl er keine Ahnung von Handfeuerwaffen hatte, begriff er, daß er zwei alte Smith & Wesson-Schwenkrevolver gefunden hatte. Und das in einer Kathedrale!
    Er nahm einen der beiden Revolver aus dem Samtbett des Kastens, trat einen Schritt zurück und sah sich die Waffe genauer an. Auf der Walze stand der Name des Herstellers und die Bezeichnung SPRINGFIELD MASS. Das halbrunde Korn war ziemlich grob ausgebildet, und der Arretierhebel, der die Walze in der Schußstellung hinter dem Lauf festhalten sollte, sah merkwürdig groß aus.
    Goetz wollte die Revolver bereits wieder in den Kasten zurücklegen, als ihn plötzlich ein eisiger Schreck durchfuhr. Mit voller Wucht wurde ihm wieder bewußt, was geschehen war. Er zitterte am ganzen Körper. Ein kalter Luftzug strich durch den schmalen Gang zwischen der Apsis und dem dahinterliegenden Raum.
    Goetz preßte die Lippen zusammen.
    Er hatte eine Waffe in der Hand!
    Etwas, womit er anderes Leben töten konnte ...
    Er stöhnte auf, wollte lachen, schüttelte den Kopf und schrie dann seine ganze Verzweiflung mit einem ohnmächtigen, wahnsinnig klingenden Gelächter aus sich heraus ...
    »Zieh!« kreischte er und wirbelte herum. Er duckte sich, hob den Revolver und zielte auf die Steinfiguren in den Nischen der Apsis.
    »Peng! Peng! Peng!« schrie er. »Kommt, ihr Säulenheiligen! Kommt runter von euren Podesten und redet endlich mit mir! Was steht ihr da so feierlich herum? Wem wollt ihr jetzt noch Eindruck machen?«
    Er spannte den Hahn des Revolvers und drückte ab. Das Klicken klang wie eine steingewordene Träne, die auf den Boden der Kathedrale fiel.
    »Ach - ich soll singen, was?« brüllte er. »Soll ich vielleicht noch lobpreisen, daß mich ein gütiger Gott verschont hat! Mich, einen Niemand ...«
    Er lachte irre.
    »Na schön, ich singe euch etwas ... aber wie soll ich singen und gleichzeitig auf die ganze Welt pfeifen? Ja, verdammt noch mal - euch eingeschlossen, ihr Säulenheilige!«
    Die steinernen Gesichter lächelten ihm gütig zu. Es war die gleiche falsche Güte wie seit Jahrhunderten ...
    Seine Stimme war immer heiserer geworden. Er ließ die Arme hängen und verstummte. Der Revolver baumelte nutzlos in seiner Rechten. Er war nicht einmal geladen.
    Goetz hatte in diesem Augenblick wesentlich mehr Angst davor, wahnsinnig zu werden, als zu verhungern. Die große Kathedrale wirkte nicht mehr wie eine Zufluchtsstätte, sondern wie eine riesige Gruft.
    Er drehte sich um. Mit mechanisch wirkenden Bewegungen stapfte er wieder in den Gang hinter der Apsis. Er nahm sich auch noch den zweiten Revolver und die beiden vergilbten Patronenschachteln aus dem Kunstlederkoffer. Während er seinen Fund in den Taschen seiner Jacke verstaute, ging er langsam weiter.
    Der Raum hinter dem Gang war kahl und leer. Nur in einer Ecke flimmerte eine Ewige Lampe. Sie beleuchtete notdürftig die ersten Stufen einer nach unten führenden Steintreppe. Goetz ging ganz langsam weiter. Als seine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, erkannte er weit unten eine regungslose Gestalt auf den letzten Stufen. Sie war in einen dunkelroten Mantel eingehüllt.
    Im ersten Augenblick fühlte Goetz ein wildes, unbeherrschtes, hoffnungsvolles Aufwallen in sich. Erst jetzt fiel ihm auf, daß er keine Menschen in der Kathedrale gesehen hatte - keine lebenden, klar, aber auch keine toten ...
    Irgendwann hatte er seinen Mundschutz abgenommen. Jetzt setzte er ihn wieder auf. Trotzdem roch es penetrant süßlich.
    Leichengeruch.
    Er konnte nicht mehr hoffen. Sein Magen krampfte sich zusammen; er würgte, aber er hatte nichts, was er von sich geben konnte. Beinahe automatisch griff er in seine Jackentaschen. Er nahm eine der brüchigen Patronenschachteln heraus und stellte sie auf das steinerne Geländer neben der Treppe. Es dauerte einige Sekunden, bis er den Mechanismus eines der Revolver verstanden hatte und die Patronenkammern füllen

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