Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
wollten, sondern um rechtzeitig die Häscher zu erkennen.
Die Nachfolger der Inquisition rächten sich noch Jahrhunderte an Bänkelsängern und angeblich »auf der Bank Gezeugten«, die sie als Bankerts diffamierten ...
Der eigentliche Grund für Intoleranz und die Verfolgung von Andersgläubigen war der nie öffentlich eingestandene Zorn über das eigene Versagen. Denn weder der Kirche noch den Königen gelang es, den wahren Reichtum des Ordens der Tempelherren zu konfiszieren. Er bestand aus dem Wissen der Eingeweihten und den Geheimnissen, das sie aus der islamisch-arabischen Welt mitgebracht hatten.
Bis ins einundzwanzigste Jahrhundert wurde immer wieder darüber spekuliert, welcher Art die Geheimnisse der Templer gewesen sein konnten. Nacheinander wurden Rosenkreuzer, Freimaurer und andere Geheimgesellschaften der Mitwisserschaft verdächtigt.
Dabei hatte es in jeder Generation nach dem Ende des Ordens Menschen gegeben, die das Geheimnis erkannten ...
*
Als er am nächsten Morgen erwachte, fühlte sich Goetz zwar immer noch matt und angeschlagen, aber er hatte kein Fieber mehr.
Eine Weile dachte er an die Dinge zurück, die ihn während des Einschlafens beschäftigt hatten. Eigentlich war es ein gutes Zeichen, daß sich sein Unterbewußtsein mit überlieferten und in fünfundzwanzig Jahren gelernten Informationen befaßte. Theoretisch gesehen benötigte er überhaupt keine weiteren Informationen mehr. Schon eine einzige Zelle seines Körpers enthielt mehr Auskünfte, als er jemals begreifen konnte ...
Auf Anhieb fand er versiegelte Kartons mit Tagesrationen aus militärischen Beständen. Er las die Gebrauchsanweisung durch, öffnete einen Karton und löste den Schutzstreifen von einem Kaffeebecher. Aus einer Aluminiumbüchse holte er Schwarzbrot, Butter und eine Tube Himbeermarmelade. Er schluckte zwei Vitaminpillen und eine Mineraltablette mit Psychopharmakabeigaben.
Der Kaffee im Becher aus Hart-Rezyk fing an zu singen. Ehe er zu heiß wurde, stoppte Goetz die chemische Reaktion im Boden des Bechers.
Vorsichtig streute er etwas Milchpulver in den dampfenden Kaffee. Er aß das Marmeladenbrot und trank kleine Schlucke Kaffee dazu. Es schmeckte köstlich.
Eigentlich ging es ihm gar nicht so schlecht. Er fühlte, wie der Kaffee seine Lebensgeister mobilisierte. Sein Magen revoltierte nicht und auch seine Nerven hatten sich beruhigt. Wenn er sich vernünftig benahm, konnte er in zwei, drei Tagen wieder fit sein!
Er leistete sich noch einen Becher Kaffee, ehe er zu den Kanistern mit Mineralwasser in den hinteren Regalen ging.
Die Kirchenmänner hatten offensichtlich schon seit vielen Jahren für Vorräte gesorgt. Goetz entdeckte eine Menge nützlicher Reserven, aber auch seltsame Dinge wie Gesellschaftsspiele, Malkästen und antiquarisch wirkende Uhrmacherwerkzeuge.
Ein ganzes Regal war mit durchsichtigen Behältern gefüllt, in denen goldene Paxtafeln, wertvolle Monstranzen, Bischofsstäbe, Reliquien und alte Handschriften aufbewahrt wurden.
Fasziniert betrachtete Goetz die staubigen Symbole einer einstmals mächtigen geistigen Elite. Wieviel Zeit war vergangen, seit Menschen niederknieten, wenn sie die kostbar eingefaßten Knöchelchen irgendeines Heiligen sahen?
Wie viele Hoffnungsschreie, wieviel Leid hatten die Mauern der großen Kathedrale schweigend angehört. Und wieviel bis zum Hohn erstarrtes Ritual ...
Er blickte den goldenen, silbernen, mit Edelsteinen verzierten Thesaurus sacer feindselig an, diesen heiligen Schatz aus vielen Jahrhunderten, mit dem niemals wieder etwas anzufangen war.
Wertloses Gerümpel in einer Welt, in der es keine Menschen mehr gab, denen Höllenqualen angedroht werden konnten, wenn sie nicht zur Beichte kamen.
Die Waffen des Ablaßhandels, mit denen lange Zeit jede Kritik an der Geschichte und an erstarrten Gesellschaftsordnungen erschlagen worden waren ...
Erstaunt registrierte er, wie sich etwas in ihm veränderte. Er dachte plötzlich nüchterner und realistischer. Nach der körperlichen Waschung im Verlagshaus erlebte er nun so etwas wie eine seelische Reinigung. Jahrhundertelang verkrustete Einstellungen waren auf einmal nichts mehr wert. Sein vorbestimmter Platz in der Gesellschaft existierte nicht mehr, weil es diese Gesellschaft nicht mehr gab.
Es war ein seltsames Gefühl. Gerade für einen Mann wie ihn mußte es eine einmalige Erfahrung sein, wenn es von einem Tag auf den anderen keine Regeln mehr gab - überhaupt keine Vorschriften und
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