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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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Verpflichtungen mehr! Nichts, woran er sich noch halten konnte.
    Wirklich nichts?
    Er lachte leise. Der Gedanke amüsierte ihn.
    Eigentlich gar nicht schlecht, alles zu dürfen ...

7. KAPITEL
    Die Geschwister schliefen lange in den 43. Tag nach dem »Weißen Feuer« hinein. Erst als die Sonne soweit gewandert war, daß sie die Fialen an der Westseite der Kathedrale traf, wachte Agnes auf.
    Sie brauchte eine Weile, um sich in der ungewohnten Umgebung zurechtzufinden. Ihr Bruder hatte sich an der Innenmauer des Türmchens zusammengerollt. Sein braunes Haar fiel strähnig über sein Gesicht.
    Agnes strich ihm mit den Fingerkuppen über die Stirn. Sie löste ihr Brusttuch, feuchtete mit den Lippen einen Zipfel an und wischte Guntram vorsichtig ein paar Schmutzspuren von den Wangen.
    Er murmelte im Halbschlaf.
    Agnes beugte sich vor, aber sie konnte nicht verstehen, was ihr Bruder sagte. Er sah in diesem Augenblick noch so erschöpft aus, daß sie ihn nicht wecken wollte. Sie betrachtete seinen Mund, seine Nase, seine Stirn. Obwohl er immer noch auf eine liebe Art wie ein großes Kind aussah, hatte er bereits Männerfalten an den Mundwinkeln und um die Augen.
    Sie küßte ihn, streichelte seine Schläfen und legte sich für einen Moment neben ihn. Die Sonne wärmte ihre Körper, die wochenlang nur dumpfe Dunkelheit empfunden hatten. Zum erstenmal nach langer Zeit empfand sie ein Gefühl der Dankbarkeit. Sie dachte an das Sakriversum, an ihre Häuser und den Dorfplatz, an warme Sommerabende, wenn alle Dachfenster geöffnet waren, und an die schöne Zeit vor der Flucht.
    Erinnerungen an ein verlorenes Paradies.
    Sie löste sich von Guntram. Vorsichtig stand sie auf und ging zur Seitenmauer des Fialentürmchens. Die Kathedrale wirkte wie eine strenge Trutzburg mit spielerisch verzierten Kanten.
    Agnes blickte nach oben. Weit entfernt und beinahe unerreichbar für sie und ihren Bruder ragte das Dach des Doms in den blauen Himmel. Guntram hatte ihr einmal erzählt, wie der erste Baumeister auf die Idee gekommen war, alle Regeln der Baukunst zu durchbrechen und einen Gralstempel zu bauen, der nichts mehr mit der Harmonie antiker Klassik zu tun hatte.
    Gotische Kathedralen. Als sie zu Hunderten in einem einzigen Jahrhundert entstanden, waren sie als krause Barbarenkunst verachtet worden. Doch kein Historiker hatte jemals herausgefunden, was wirklich hinter dem Geheimnis der Tempel Salomonis steckte ...
    Guntram wußte es. Agnes auch. Und mit ihnen die eingeweihten Schander.
    Agnes bekreuzigte sich. Sie lehnte sich an einen Pfeiler des Fialtürmchens, das im Vergleich zum gemauerten Gebirge der Kathedrale wie ein erster, zaghafter Versuch des Baumeisters aussah.
    Ihr Blick wanderte über die Landschaft aus behauenem Stein. Weit unten duckten sich die Häuser der Weltlichen in der Mittagssonne.
    Die Brandherde hatten zugenommen. Über Nacht waren an zwei Dutzend Stellen überall in der Stadt weitere Feuer entstanden. Direkt vor der Kathedrale hatte sich eine See gebildet, der aus sprudelnden unterirdischen Quellen gespeist wurde.
    Das Wasser floß über die engen Straßen der Altstadt ab. Trotzdem war alles still. Sie konnte weder das Knistern der Flammen im Gebälk der Häuser noch das Gurgeln und Rauschen von Wasser hören.
    Eine unheimliche Ruhe hing über der großen, leeren Stadt.
    Wäre es vielleicht doch besser gewesen, wenn sie und Guntram zusammen mit den anderen den Wein der Letzten Gnade getrunken hätten? Sie sehnte sich plötzlich nach der Geborgenheit zurück, in der sie aufgewachsen war. Die Weltlichen existierten nicht mehr. Unter anderen Umständen hätte das die Befreiung von einer Jahrhunderte alten Angst bedeutet. Aber jetzt war alles noch viel grausamer geworden ...
    Agnes legte die Hände auf ihren Leib. Ob sie jemals Kinder bekommen durfte?
    Es war alles so still. Die Tauben flogen nicht mehr. Kein Hauch bewegte die Blätter des Haselnußstrauchs auf dem Schwibbogen zur Kathedrale. Früher war die Stadt nur dann so ruhig gewesen, wenn die Sonne auf der anderen Seite der Erdscheibe stand und die Nachtmuhmen mit Eulen und Fledermäusen flüsterten.
    Agnes hatte noch nie einen Tag erlebt, an dem die Sonne schien und gleichzeitig die Zeit stehengeblieben war. Sie konnte einfach nicht verstehen, warum es keine Weltlichen mehr gab.
    »Was denkst du?« fragte Guntram.
    Agnes erschrak. Sie drehte sich um. Guntram war aufgewacht und hatte sich unbemerkt hinter sie gestellt.
    »Mein Gott, das darfst du nicht noch

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