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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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er.
    »Vielleicht finden wir weiter oben eine Mulde in den Steinen, in der sich etwas Regenwasser gesammelt hat.« Sie sah sich um. Viel war in der halbdunklen Rinne nicht zu erkennen. Doch dann entdeckte sie ein Büschel Gras in einer Spalte. Sie sammelte die Samenkörner ein. Gleichzeitig überlegte sie, warum der Haselstrauch am Fialentürmchen bereits Früchte getragen hatte, obwohl es erst Frühling war. Ob das auch mit dem Fluch zusammenhing, der sie so lange in den Kellern festgehalten hatte?
    Während sie schweigend einige Grassamen kaute, dachte sie darüber nach, warum sie niemals so gelebt hatten wie die Weltlichen. Sie wußte, daß ihr Volk von Menschen abstammte, die ebenso wie alle anderen gewesen waren. Irgend etwas konnte mit der Kathedrale und dem Sakriversum nicht stimmen!
    Bankerts , die auch die ganze Zeit oben gelebt hatten, waren ebenso klein geworden wie die Schander. Und doch gab es unter dem Parallelvolk andere, die nur als Mischformen zwischen den Rassen bezeichnet werden konnten.
    Warum?
    Agnes fürchtete sich plötzlich vor der Rückkehr in ihre angestammte Welt. Sie spürte, wie es ihr kalt den Rücken herunterlief, als sie an das Sakriversum dachte. Welches große, unheimliche Geheimnis verbarg sich hinter allem?
    Sie lauschte angestrengt in die Abflußröhren des unteren Daches hinein. Es war, als würden die alten Mauern mühsam atmen, flüstern, wispern. Hörte sie raunende Wasser in der Tiefe - oder war es der schwermütige Gesang von Menschen?
    Fern über ihr dröhnten plötzlich Glockenschläge. In unregelmäßigen Abständen und mit langen Pausen rührte ein unbekannter Mechanismus zwei kleine Glocken. Es klang wie ein mahnendes Totengeleit. Dann kam eine der großen Glocken dazu.
    »Was ist das?«
    Agnes sah ihren Bruder furchtsam an.
    »Ich weiß nicht. So habe ich das Läuten noch nie gehört ...«
    Guntram griff unwillkürlich nach seinem Hakenmesser.
    »Ob Corvay bereits oben ist?« fragte Agnes.
    Guntram hob die Schultern.
    »Er hat den zweiten Teil des Testaments nicht, aber zuzutrauen wäre es ihm. Doch dann müßte er mit all seinen Mannen einen Gewaltmarsch durchgeführt haben! Und das glaube ich nicht!«
    »Könnten nicht andere ...«
    Guntram schüttelte den Kopf.
    »Als wir die Zeichen der Astrologen und von Meister Wolfram erhielten, sind wir alle in die Bleikeller gewandert. Das war vor sieben Wochen. Sechs Tage später brach die Zivilisation der Weltlichen zusammen. Wir waren die einzigen Menschen, die die Vorzeichen erkannt haben, deshalb leben wir noch!«
    »Der Haselstrauch am Fialtürmchen trug bereits Früchte, obwohl noch nicht einmal der Maienmond begonnen hat!«
    »Was meinst du damit?«
    »Vielleicht hat das ›Weiße Feuer‹ die Früchte reifen lassen ...«
    Guntram richtete sich auf. Er klopfte etwas Schmutz von seinen Hosen, strich sich sein Haar zurück und lächelte.
    »Ich kann verstehen, daß du besorgt bist, Agnes. Laß uns nur schnell nach oben kommen, dann sieht alles ganz anders aus!«
    Er reichte ihr seine Hand.
    Agnes ergriff sie und hielt sie fest wie eine Ertrinkende. Die Glocken über ihnen tönten jetzt so laut, daß alle Mauerfugen zitterten und selbst die schweren Steinquader bebten. Feiner Staub rieselte auf sie herab.
    »Komm!« sagte Guntram. Agnes wischte sich mit der Linken die Tränen aus den Augen. Ihr Bruder zog sie vorsichtig höher in den schrägen Wasserschlag.
    *
    Mathilda war nur wenige Minuten zu spät gekommen. Sie hatte die letzten Worte ihres Vaters nicht mehr gehört. Als sie ihren Mann und Bruder Hanns und ihren Vater nicht mehr fand, hatte sie sich immer wieder aufschreiend an Schandern und Bankerts vorbeigedrängt. Wo Hände sie aufhalten oder Freunde ihr helfen wollten, war sie mit übermenschlichen Kräften auf schwierige Vorsprünge an den Mauern ausgewichen.
    Sie hatte fast die halbe Nacht benötigt, um endlich die Gruppe zu erreichen, die bereits den halben Weg zum Sakriversum überwunden hatte.
    Hanns war zum Führer des Totenschlittens mit dem Leichnam von Meister Wolfram eingeteilt worden.
    Wie eine Furie fuhr Mathilda auf ihren Bruder zu. Sie packte ihn an den Ohren, kratzte über sein Gesicht und zerriß sein schmutziges Wams.
    »Du dreckiger, feiger Hund!« kreischte sie. »Hast du nicht zugesehen, wie unser Vater starb? Und dann machst du dich auch noch zum Schergen dieser Lumpen ...«
    Der hölzerne Schlitten mit dem Leichnam ihres Vaters hing an einer schwierigen, sehr steilen Überleitung von einer

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